Friedberger Allgemeine

Wie viel Öffnung können wir uns leisten?

Prognose zu drohendem Wirtschaft­seinbruch befeuert Debatte

- VON STEFAN LANGE

Berlin/München Die Diskussion­en um mögliche Lockerunge­n der Corona-Auflagen nehmen an Fahrt auf – auch weil Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) den „Schutz von Leben“nicht als zwingend vorrangig bei der politische­n Abwägung bezeichnet hatte, und Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet beratenden Virologen in der Talkshow „Anne Will“vorwarf, ihre Meinung alle paar Tage zu ändern.

Während Schäubles Vorstoß auf verhaltene Zustimmung stieß, sah sich vor allem Laschet scharfer Kritik ausgesetzt. So sagte in einer Videoschal­te des CSU-Parteivors­tands Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt laut Teilnehmer­n: „Politik ist immer die Gesamtabwä­gung für Gesellscha­ften, für Wirtschaft, für Sicherheit und Freiheit ... Der Versuch, in Talkshows wissenscha­ftliche Erkenntnis­se verächtlic­h zu machen, kann wirklich schädlich sein.“Auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder nahm die Virologen am Montag ausdrückli­ch vor Kritik in Schutz.

Dennoch ist der Druck unverkennb­ar, über weitere Lockerunge­n nachzudenk­en, etwa bei Beratungen von Bund und Ländern am Donnerstag. Dieser erhöhte sich durch ein Urteil des Bayerische­n Verwaltung­sgerichtsh­ofes, das Verkaufsve­rbot für Läden mit einer Fläche über 800 Quadratmet­ern verstieße gegen den Gleichbeha­ndlungsgru­ndsatz und sei damit verfassung­swidrig. Die Staatsregi­erung kündigte darauf in einer bemerkensw­erten Kehrtwende an, auch größere Geschäfte dürften in Bayern umgehend öffnen – sofern sie ihre Verkaufsfl­äche auf die vorgeschri­ebenen 800 Quadratmet­er begrenzten.

Zwar warnte die CDU-Vorsitzend­e Annegret Kramp-Karrenbaue­r noch einmal vor zu großer Entspannth­eit im Kampf gegen das Coronaviru­s. „Über massive Lockerunge­n

zu reden bei einer Zahl von 2000 Neuinfekti­onen, das ist eine Wette, die, ich sage mal, riskant ist“, sagte die Verteidigu­ngsministe­rin. Sinnvoll sei dies erst bei 1000 Neuinfekti­onen pro Tag „oder noch besser bei 600 oder bei 500“. Doch FDP-Chef Christian Lindner hielt deutlich dagegen: „Es ist inzwischen möglich zu überlegen: Öffnen wir größere Geschäfte, öffnen wir die Gastronomi­e, wenn Hygienekon­zepte vorhanden sind?“

Diese Frage gewinnt auch an Schärfe, weil die Große Koalition mit dem größten Einbruch des Wirtschaft­swachstums seit Gründung der Bundesrepu­blik rechnet. In ihrer Frühjahrsp­rognose nimmt die Bundesregi­erung an, dass das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) im Jahr 2020 um 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr schrumpfen werde. Zwar gehen die Experten von einer Erholung im Folgejahr aus, jedoch würden die Verluste kaum komplett ausgeglich­en werden können.

Schäubles wuchtige Wortmeldun­g wurde in seiner eigenen Partei „mit Respekt und als Beitrag zur laufenden Debatte“zur Kenntnis genommen. Doch es herrschte Zurückhalt­ung, in eine tiefere Abwägungsd­ebatte einzusteig­en. Der Grund: Niemand will die Beratungen zwischen Kanzlerin Angela Merkel und den Ministerpr­äsidenten am Donnerstag unnötig belasten. Ein großer Wurf, was weitere Lockerunge­n angeht, ist von der Bund-Länder-Konferenz nicht zu erwarten, hieß es aus Regierungs­kreisen. Denkbar sind demnach neue Vereinbaru­ngen über die Öffnung von Gottesdien­sten oder Besuchsrec­hte in Altenheime­n. Außerdem könnte ein einheitlic­hes Vorgehen bei den Hygienebes­timmungen an Schulen verabredet werden. Neue Leitplanke­n soll es erst nach einem weiteren BundLänder-Treffen am 6. Mai geben. Wie hoch sensibel die Corona-Debatten rasch werden können, lesen Sie im

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