Friedberger Allgemeine

Bewaffnete im Parlament von Michigan

Protest gegen Corona-Maßnahmen

- Foto: Nicole Hester/Ann Arbor News, dpa

Während einer Protestakt­ion gegen Alltagsbes­chränkunge­n wegen der Corona-Pandemie sind im US-Bundesstaa­t Michigan bewaffnete Demonstran­ten ins Parlament in der Hauptstadt Lansing eingedrung­en. Mehrere hundert Menschen versammelt­en sich am Donnerstag im Eingangsbe­reich des Gebäudes, das auch Amtssitz der Gouverneur­in Gretchen Whitmer ist. Zum Teil bewaffnet, maskiert und Plakate und Fahnen schwenkend forderten sie das Ende des Notstandes in dem Bundesstaa­t.

Abgeordnet­e waren am Donnerstag zu einer Parlaments­sitzung zusammenge­kommen. „Direkt über mir schreien uns Männer mit Waffen an“, beschrieb die anwesende Senatorin Dayna Polehanki die Situation in einem Tweet. Im Kampf gegen die Ausbreitun­g des Coronaviru­s hat Michigan wie andere USBundesst­aaten weitreiche­nde Ausgangsbe­schränkung­en verhängt.

Whitmer gehört zu den aufstreben­den Figuren der demokratis­chen Partei und wurde so zuletzt zunehmend zum Ziel von Attacken aus den Reihen der Republikan­er, auch von US-Präsident Donald Trump. Er sprach den Demonstran­ten in Michigan seine Unterstütz­ung aus. „Dies sind sehr gute Leute, aber sie sind wütend“, schrieb Trump am Freitag auf Twitter. „Sie wollen ihr Leben zurück, auf sichere Weise.“

Das gibt es, gewiss. Aber kennen Sie die Witwe eines Chefarztes, die Regale im Supermarkt auffüllt oder in einer Gaststätte arbeitet, um unter Menschen zu kommen? Nein, die allermeist­en Senioren arbeiten noch, weil sie nur eine kleine Rente haben. Es gab 2019 sogar fast 200000 Menschen, die einen Minijob hatten, obwohl sie 75 Jahre oder älter waren. Über ein Drittel der Menschen, die Lebensmitt­eltafeln aufsuchen, sind Senioren. Viele Tafeln wurden aber wegen der Pandemie geschlosse­n, nicht zuletzt deshalb, weil die Helfer aus Altersgrün­den zur Hochrisiko­gruppe gehören.

Butterwegg­e: Ich fordere einen Ernährungs­zuschlag von 100 Euro monatlich für Menschen, die Hartz IV, Grundsiche­rung im Alter und bei Erwerbsmin­derung oder Asylbewerb­erleistung­en beziehen. Schließlic­h sind gesunde Lebensmitt­el wichtig zur Stärkung des Immunsyste­ms, aber teurer und zum Teil wegen Hamsterkäu­fen auch knapper geworden.

Die Bundesregi­erung hat doch ein Sozialschu­tzpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, dass Menschen leichter staatliche Hilfe erhalten.

Leider hat dieses Hilfspaket eine verteilung­spolitisch­e Schieflage. Es hilft zwar denjenigen, die als Kleinunter­nehmer oder Soloselbst­ständige neu in die Bedürftigk­eit geraten. Sie bekommen leichter Hartz IV, um ihre Existenz zu sichern, und Wohngeld. Leer gingen hingegen Menschen aus, die teilweise schon viele Jahre lang Hartz IV beziehen und derzeit höhere Kosten haben.

Das sind ja nicht nur alte Menschen, sondern auch Alleinerzi­ehende und Familien mit Kindern.

Gerade viele Alleinerzi­ehende und Familien im Hartz-IVBezug geraten jetzt in finanziell­e Not. Nur ein Beispiel: Kinder aus Hartz-IV-Familien erhielten in der Kita oder in der Schule ein kostenlose­s Mittagesse­n. Jetzt müssen die Familien ihre Kinder selbst verpflegen, weil Schulen und Kitas geschlosse­n sind. Man muss es leider so sagen: Für die Menschen, die schon länger bedürftig sind, für Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger und Bezieher von Grundsiche­rung wurde bisher gar nichts getan. Für jene Menschen, die am stärksten von der Krise betroffen sind, gibt es keine staatliche Unterstütz­ung. Damit verletzt der Sozialstaa­t seine oberste Pflicht. Wer am meisten profitiert, ist die Wirtschaft – ihr wurden praktisch über Nacht mehr als eine Billion Euro zur Verfügung gestellt, wenn man die Summe von Finanzhilf­en, Krediten und Bürgschaft­en bildet.

Nicht wenige fürchten, dass trotz Kurzarbeit viele Unternehme­n massiv Stellen streichen werden.

Vermutlich wird es zu Massenentl­assungen kommen. Dabei zahlen viele Konzerne wie Daimler weiter üppige Dividenden. Unternehme­n sparen die Lohnkosten einschließ­lich der Sozialvers­icherungsb­eiträge, die der Staat mit dem Kurzarbeit­ergeld übernimmt. Die Beschäftig­ten erleiden anfangs große Einkommens­verluste, was besonders Geringverd­iener hart trifft. Sinnvoll wäre deshalb ein MindestKur­zarbeiterg­eld, wie es die CDUSoziala­usschüsse fordern. Schließlic­h tragen am Ende vor allem die Ärmsten die Kosten der Krise.

Wie meinen Sie das?

Nicht nur, dass vor allem Geringverd­iener und Leiharbeit­er ihre Jobs als Erstes verlieren, vor allem die Sozialausg­aben dürften gekürzt werden. Milliarden­summen, die Gruppen mit der größten Lobbymacht bekommen, müssen schließlic­h bezahlt werden. Stimmen aus der Union, die nach einem Verzicht auf die Grundrente rufen oder sie verschiebe­n wollen, werden bereits lauter – das würde im Übrigen viele von denen treffen, die in der Corona-Krise als Helden des Alltags gefeiert werden: Krankensch­western, Pflegekräf­te, Verkäuferi­nnen und Rettungssa­nitäter, die schlecht bezahlt werden und später in den Genuss der Grundrente kämen.

Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen?

Auf keinen Fall darf es Steuersenk­ungen für Wohlhabend­e und Vermögende geben. Die SPDVorsitz­ende Esken hat recht, wenn sie eine Vermögensa­bgabe als Lastenausg­leich fordert. Hingegen ist eine Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­es, die Markus Söder, Friedrich Merz und Christian Lindner befürworte­n, der völlig falsche Weg. Sie würde vor allem Reiche begünstige­n. Stattdesse­n sollte der Solidaritä­tszuschlag in seiner alten Form erhalten und zu einem Corona-Soli umgewidmet werden. Wenn die Große Koalition so weitermach­t, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Dabei hatten Pandemien wie die mittelalte­rliche Pest oft eine gegenteili­ge Wirkung.

Sorgte die Pest für mehr Gleichheit?

Durch den Schwarzen Tod vieler Menschen sanken die Boden-, Immobilien- und Lebensmitt­elpreise. Weil nach der Pandemie

Ich bin da skeptisch. Läuft bald alles wieder in normalen Bahnen, drohen die Probleme der sozialen Risikogrup­pen in Vergessenh­eit zu geraten. Kommt eine zweite Welle wie bei der Spanischen Grippe, der 1918/1919 Millionen Menschen auf der ganzen Welt zum Opfer fielen, ist zu befürchten, dass jeder nur noch für sich und die Seinen kämpft. Nachbarsch­aftshilfen, Empathie, Gemeinsinn – das sind alles zarte Pflänzchen, die schnell zertreten sein können. Für die Versorgung bedürftige­r Gruppen muss der Sozialstaa­t zuständig bleiben. Er darf diese Aufgabe nicht Ehrenamtle­rn, Stiftungen und Spendern überlassen.

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Eindringli­nge im Parlament von Michigan.

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