Die schwere Arbeit der Mutter
„Mein Gott – Leit, hangat bloß woitla uira weißa Fahna raus“! Viele meiner damaligen Erinnerungen – ich war ja ein frisch eingeschulter Kleinbauernbub – , an das Kriegsende sind verwackelt oder überfrachtet. Doch die mir so wohlbekannte Ausruferstimme des betagten Gemeindedieners ist mir als überkippend und angstbesetzt in Erinnerung geblieben. Amerikanische Truppen hatten gerade Memmingen besetzt und sie waren im Anmarsch auf Ottobeuren. So die Rufe der Nachbarinnen straßauf, straßab. Ob die eilig aus den Fenstern gehängten Fahnen im Original bettbezugweiß waren (die 80-jährige Oma sprach von „Bettziacha“) oder ob es sich um schnell entfärbte Stoffe zum ursprünglich tausendjährigen Gebrauch handelte, war mir nicht ersichtlich. Ich erinnere mich jedoch noch genau, wie ein US-Soldat die am Scheunentor angetretene „Hausbesatzung“, bestehend aus der schon erwähnten Oma, der nicht übermäßig arisch aussehenden Mutter und einem zwischen Neugier und Furcht schwankenden Sechsjährigen, mit scharfen Blicken musterte und die Falltür zum Keller aufriss, aus dem ihm offenbar so fauliger Kartoffelgeruch entgegenschlug, dass ihm das uralte Bauernhaus nicht als Widerstandsnest erschien.
Für uns Buben waren die ersten Monate des Friedens vor allem Sammlerzeiten. Ich besaß Patronenhülsen und einen SA-Dolch, den ich in einem Baumstumpf entdeckt hatte. Der ehemalige Besitzer hatte neben der Waffe vielleicht doch auch seine Nazi-Ideologie entsorgt. So langsam verblassten die Erinnerungen an die Kriegszeit. Nur eines halte ich bis heute im Gedächtnis und beim Ton von Sirenen zucke ich immer noch zusammen. Einmal trug mich meine Mutter nach Mitternacht aus einem stickigen Luftschutzkeller nach Hause. Der Osthimmel war blutrot, denn München brannte lichterloh. Unvergesslich auch, wie schwer meine Mutter arbeitete, um den kleinen Bauernhof als einzige Vollarbeitskraft für Oma und mich über die Runden zu bringen. Mein Vater kam erst 1949 krank und vor der Zeit alt und müde geworden aus russischer Gefangenschaft zurück.
In den Tagen des Kriegsendes habe ich zweimal die Hände von den verweinten Augen meiner Mutter zurückgezogen, nachdem sie erfuhr, dass sowohl ihr Bruder als auch der Bruder meines Vaters kurz vor Kriegsende gefallen waren. Selbst jetzt, zwei Generationen später, sind nicht alle Tränen getrocknet. Ich habe großen Respekt vor den immer wieder auch medial aufbereiteten Schicksalen der Berliner Trümmerfrauen. Doch wer kennt noch die Leidenswege auf den kleinen, notvollen Kleinbauernhöfen. Dennoch konnte meine Mutter immer wieder sagen: „Guat isch’s ganga, sechs hand sieba g’fanga!“Und immer waren verhärmte Flüchtlingskinder mit am Tisch. „Wir schaffen das“war damals keine hin und her kritisierte Parole, sondern Notwendigkeit. Und es war gleichzeitig auch von uns Buben schon erspürbar, offeneres Lachen und Aufbruchstimmung.