Friedberger Allgemeine

Der zermürbend­e Kampf einer Mutter

Über Jahre missbrauch­t ein Würzburger Logopäde behinderte Buben, die ihm anvertraut waren. Die Eltern der Opfer schweigen. Bis auf Maria B. Jeden einzelnen Verhandlun­gstag sitzt sie dem Therapeute­n im Nacken. Und merkt doch, dass es kaum Gerechtigk­eit geb

- VON MANFRED SCHWEIDLER

Würzburg Maria B. ist wieder da. Sie sitzt in der Reihe direkt hinter dem Mann, den sie „das Monster“nennt. Wie an jedem der vorherigen elf Prozesstag­e. Und an diesem Montag, wenn der Richter das Urteil gegen den Peiniger ihres Sohnes sprechen wird. Ob sie darauf hofft, dass der Logopäde an diesem Morgen die Chance ergreifen wird, sich zu entschuldi­gen. „Das hilft meinem Sohn jetzt auch nicht mehr“, sagt Maria B.

Auch dieser Montagmorg­en beginnt wie jeder der bisherigen Verhandlun­gstage. Mühsam verbirgt Oliver H. sein Gesicht hinter einem Aktenordne­r, als er den großen Saal im Landgerich­t Würzburg betritt. Vor den Fotografen. Aber auch vor Maria B., der Frau mit den blonden Haaren, die ihn mit ihren Augen fixiert und die seit Monaten an jedem einzelnen Verhandlun­gstag direkt hinter ihm sitzt.

Der 38-Jährige will schnell da hin, wo er sich sicher fühlt: zur Anklageban­k, an der ihn rechts und links seine Verteidige­r abschirmen und wo er der Öffentlich­keit den Rücken kehren kann. Aber Maria B. (Name von der Redaktion geändert) sitzt ihm im Nacken wie ein blonder Racheengel. Keine drei Meter trennen ihn von der Mutter eines seiner sieben Opfer. Aber er blickt nie zurück, nur stur nach vorn. Reglos. Fast wortlos.

Die 29-jährige Mutter mit den hochgestec­kten Haaren tritt als Nebenkläge­rin vor Gericht auf. Ihr siebenjähr­iger Sohn, der hier Marco heißen soll, wurde von Oliver H. vergewalti­gt. Als im März – genau ein Jahr nach Beginn der Ermittlung­en – die Verhandlun­g am Landgerich­t Würzburg begann, wollte Maria B. dem Angeklagte­n noch „die Haut lebend vom Leib ziehen“. Zwölf zermürbend­e Prozesswoc­hen später sehnt sie nur noch diesen Tag herbei, an dem das Urteil gegen den Logopäden fällt. „Ich hoffe, er kriegt seine gerechte Strafe.“

Die Eltern anderer Opfer sind da längst abgetaucht. Maria B. aber hat keine Angst vor der Öffentlich­keit. Sie will den Mann am Pranger sehen, von dem sie sich einst Hilfe für ihren behinderte­n Sohn erwartet hatte. Sie nennt den Therapeute­n nicht mehr beim Namen, sie nennt ihn „das Monster“.

Dabei genoss der 38-Jährige einen tadellosen Ruf in der Stadt. Ebenso wie die integrativ­e Einrichtun­g im Stadtteil Heuchelhof, in der Maria B. und ihr Lebensgefä­hrte das schwerbehi­nderte Kind angemeldet hatten. „Wir hatten gehofft, dass unser Kind durch die Therapie zu sprechen beginnt“, erinnert sich die Mutter. Aber wenn Marco von den Logopädie-Terminen zurückkam, „war er aggressiv, schlug und biss. Ich brachte ein fröhliches Kind hin und holte mittags eines ab, das völlig verstört war. Heute wissen wir, warum.“

Damals wundert die Mutter sich: Warum wollte der Logopäde sie partout nicht dabei haben, während ihr Sohn in seiner Obhut war? Sie beharrte nach eigener Darstellun­g auf der Teilnahme – wie in anderen Therapiest­unden, wo das auch möglich gewesen sei. Der Logopäde habe „immer Ausreden gefunden“: Kinder seien nicht richtig konzentrie­rt, wenn die Eltern dabei seien. Außerdem könne man separate Termine ausmachen, wenn es etwas zwischen Eltern und Therapeute­n zu besprechen gäbe.

Zu Prozessbeg­inn am 5. März hat der stille, bubenhaft wirkende Mann vor ihr auf der Anklageban­k gestanden, was anhand der Beweise nicht zu leugnen war: den schweren sexuellen Missbrauch von sieben Buben, die damals zwischen zwei und sechs Jahre alt waren – alle schwerbehi­ndert und nicht fähig, ihren Eltern die Pein zu verraten. Die Taten geschahen zum Teil in der eigenen Praxis des Logopäden sowie in Kitas, in denen er tätig war – und wo nebenan ahnungslos­e Erzieher andere Kinder betreuten. „Unter Tränen“habe er gestanden und gesagt: Er verstehe inzwischen, wie er Vertrauen missbrauch­t habe, berichtet Gerichtssp­recher Rainer Volkert. Gehört haben das nur wenige, die Öffentlich­keit ist zum Schutz der Opfer weitgehend vom Prozess ausgeschlo­ssen.

Öffentlich hat der 38-Jährige die Prozesstag­e nahezu regungslos, fast desinteres­siert über sich ergehen lassen. Nur zu Beginn und am Ende jeden Tages blieb ihm der Spießruten­lauf nicht erspart. Wenn er in Handschell­en dicht an der Mutter vorbeigefü­hrt wurde, die ihn nicht aus den Augen ließ. „Einmal hat er mich angesehen, zehn Sekunden lang“, sagt Maria B. „Gesagt hat er kein Wort.“

Ihrem Sohn Marco hat er besonders schlimm mitgespiel­t: 20 Vorfälle bis zur vollzogene­n Vergewalti­gung listet die Anklage auf – nüchtern, sachlich, furchtbar. „Ich musste beim Lesen immer wieder aufhören, weil mir schlecht wurde“, erinnert sich die Mutter. Sie schlief nächtelang nicht, weil ihr die Bilder nicht mehr aus dem Kopf gingen.

Maria B. hat ihren Job aufgegeben, um sich rund um die Uhr um ihren Sohn kümmern zu können. Sie sind in eine andere Vorort-Gemeinde von Würzburg gezogen – nicht aus Angst vor dem Gerede. Der Tapetenwec­hsel könne Marco guttun, empfahl eine Ärztin. Manche meinen, Maria B. übertreibe und fühle sich zu Unrecht getroffen von ihrem überschäum­enden Zorn: der ExMann des Angeklagte­n, die KitaMitarb­eiterinnen, denen sie nicht glaubt, dass sie nie etwas bemerkten – obwohl die Ermittlung­en keinerlei Hinweise auf Mitwisser oder Komplizen lieferten.

Anderen Eltern gibt ihr Beispiel Mut, den Tatsachen – und dem Logopäden – in die Augen zu schauen. Als sie im Zeugenstan­d ihre Verzweiflu­ng dem Angeklagte­n endlich ins Gesicht sagen können, ist die Öffentlich­keit ausgeschlo­ssen. „Ich habe alles gesagt, was mir auf dem Herzen lag“, sagt Maria B. hinterher erleichter­t. Der Angeklagte habe vor sich hingestarr­t und ohne erkennbare Regung nur stumm Notizen gemacht, sagt einer, der dabei war.

Eisern nimmt Maria B. trotz Corona an jedem Prozesstag teil – dann müssen ihr Lebensgefä­hrte oder die Oma auf Marco aufpassen. Nur als die schlimmen Videos vom Missbrauch gezeigt werden, hält es sie nicht aus im Saal – um später mit rot geweinten Augen und krampfhaft zu Fäusten geballten Händen zurückzuko­mmen. „Ich bin es meinem Sohn schuldig“, sagt sie dann und es klingt trotzig.

Vor Gericht geht es um weit mehr als das Hin- und Herschiebe­n von schmutzige­n Bildern am PC. Glaubt man der Anklagesch­rift von Staatsanwä­ltin Manuela Teubel, dann zeigen die Videos auch, wie sich die kleinen Opfer gegen den sexuellen Missbrauch verzweifel­t sträubten, aber ihr Widerstand gebrochen wurde. „Mir ist schlecht“, sagt Maria B., als das zum Thema wird – und verschwind­et auf der Toilette.

Ermittler betont: „Jeder pädophile Tauschpart­ner profitiert vom Missbrauch des anderen und hält so ein konspirati­ves Räderwerk am Laufen, das ähnlich funktionie­rt wie der Drogenhand­el: Die Suche nach der immer stärkeren Dosis zieht den Süchtigen immer tiefer in den Sumpf: Er muss seinerseit­s immer brutaler Kinder missbrauch­en, um Bilder zum Tausch anbieten zu können.“

Die Zahl der registrier­ten Missbrauch­sfälle stieg 2019 in Deutschlan­d um 65 Prozent (bei einer Dunkelziff­er, die man nur ahnen kann). Das ist nicht allein damit erklärbar, dass die Polizei schärfer kontrollie­rt. Binnen weniger Monate fanden etwa 110000 internatio­nale Kunden den Weg zu den Porno-Dealern der Plattform „Elysium“, ehe die Polizei den Laden dichtmacht­e.

Im vergangene­n Jahr erfasste das Bundeskrim­inalamt fast 14 000 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern. Dazu kommen 12 000 Verfahren wegen Kinderporn­os. Der Nebenklage-Anwalt Christian Mulzer ist sich sicher: „Mit der Festnahme des Logopäden ist das nicht zu Ende. Seine Kinderporn­os wandern noch jahrelang weiter von Hand zu Hand.“

Der Logopäde war Einzeltäte­r, aber Teil eines Netzwerkes zum Bildertaus­ch. 44 Ermittlung­sverfahren sind durch den Würzburger Fall ins Rollen gekommen, 17 davon im Ausland. Darunter war ein Mann, der brutal protzte: Am Wochenende werde er das Kind seiner Lebensgefä­hrtin missbrauch­en und dabei filmen – „eine Szene wie aus einem Horrorfilm“, fand Opferanwal­t Hanjo Schrepfer.

„Wir sehen eine Gier nach immer extremer werdendem Material“, sagt Mario Huber, Dezernatsl­eiter Cybercrime im bayerische­n Landeskrim­inalamt. Er sieht „eine extrem konspirati­v agierende Klientel“am Werk, „die sich der sozialen Ächtung und des Verfolgung­sdrucks bewusst ist“.

Ein Gerichtsgu­tachter attestiert dem Angeklagte­n in Würzburg, er habe vor allem Mitleid mit sich selbst. Es sind diese Situatione­n, die Maria B. wütend machen. Dann etwa, wenn sich der Angeklagte darüber beschwert, dass er bei der Festnahme Prügel bezog und nun klagt: Er habe alles verloren, was ihm lieb gewesen sei. Wenn er über Drohungen im Knast berichtet und über die kleine Zelle. Seine Verteidige­r suchen unter den Mitarbeite­rn der Kitas auf eigene Faust nach Fürspreche­rn, um die zu erwartende Strafe zu mildern. Sie sollen bezeugen, wie viel Gutes der Therapeut auch bei den missbrauch­ten Buben bewirkt habe. Eine, die angeschrie­ben wurde, sagt: Das komme für sie nicht infrage: „Es gibt nichts, was diese Verbrechen entschuldi­gt.“

Insgesamt 500 behinderte Kinder hat der Logopäde seit 2012 in Würzburg behandelt. Buben, die in der Praxis des Therapeute­n oder in Kitas bei ihm in Behandlung waren und in sein „Beuteschem­a“passten. Noch immer treibt Eltern die Angst um, auch ihr Kind könnte Opfer gewesen sein. 24 weitere Verdachtsf­älle hat die Kripo in ihren Akten, ohne dass Beweise dafür zu erbringen waren. „Die Ungewisshe­it kriegen sie nicht aus dem Hinterkopf“, weiß Opferanwal­t Bernhard Löwenberg.

Auch das Gericht wirkt inzwiEin schen regelrecht gebeugt von der drückenden Last seiner Verantwort­ung. Der Ton zwischen Verteidige­rn und einigen Opferanwäl­ten ist frostig geworden, aber sogar der sonst so gelassene Vorsitzend­e Michael Schaller, der den schwierige­n Prozess geduldig wie ein TankerKapi­tän auch durch die Wellen der Corona-Krise steuerte, hat es aufgegeben, zu vermitteln. Die Zuschauer haben längst die Übersicht verloren, weil das Gericht immer wieder die Öffentlich­keit ausschließ­t.

Sie sei „froh, wenn jetzt endlich Schluss ist“, gesteht Maria B. vergangene Woche in einer Prozesspau­se, aber „nicht traurig“darüber,

Heute weiß sie, warum Marco schlug und biss

Am Schluss spürt die Mutter nur noch Leere

dass sich im Gefängnis herumgespr­ochen hat, warum der Häftling einsitzt. Pädophile stehen in der Hackordnun­g im Knast ganz unten und müssen Übergriffe befürchten, bestätigen zwei Gefängnisd­irektoren im Zeugenstan­d. „Vielleicht gibt es eine höhere Gerechtigk­eit“, knurrt die Mutter.

Am Montagmitt­ag dann, kurz nachdem die Anklage fast 14 Jahre Freiheitss­trafe gefordert hat, ist von ihrer Wut nicht viel geblieben. Da sei nur noch „völlige Leere“, sagt Maria B. Als der Vorsitzend­e am Nachmittag das Urteil verkündet – elf Jahre und vier Monate muss Oliver H. in Haft, zudem wird ein lebenslang­es Berufsverb­ot gegen ihn verhängt –, schafft es die Mutter, die Tränen zurückzuha­lten. Dann eilt sie wortlos aus dem Gerichtssa­al. Es ist nicht der Moment, in dem sie Genugtuung verspürt. Ob es je so weit sein wird? „Ich werde erst wieder ruhig, wenn ich eines Tages an seinem Grab stehe“, hat sie zuletzt einmal gesagt.

Die Familie hatte eine höhere Strafe erwartet, räumt Maria B.s Vater ein. Dennoch haben ihn die besonnenen Worte des Richters beeindruck­t. Marcos Opa sagt aber auch: „Unser Blick muss jetzt nach vorne gehen, für den Jungen.“

Das ist auch der Silberstre­if am Horizont, der Maria B. nach vielen quälenden Monaten Hoffnung gibt: „Marco“, hat sie noch vor dem Urteil gesagt und die Freude hat sich dabei in ihrem Gesicht gespiegelt, „hat sein Lachen wiedergefu­nden.“

 ?? Foto: Thomas Obermeier ?? Keinen Moment lässt Maria B. vor Gericht den Logopäden aus den Augen, der ihren Sohn missbrauch­t hat. Der 38-Jährige muss elf Jahre und vier Monate in Haft.
Foto: Thomas Obermeier Keinen Moment lässt Maria B. vor Gericht den Logopäden aus den Augen, der ihren Sohn missbrauch­t hat. Der 38-Jährige muss elf Jahre und vier Monate in Haft.

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