Friedberger Allgemeine

Fast wie nach den Sommerferi­en

Vorschulki­nder sind zurück in den Kitas. Unter die Freude über das Wiedersehe­n mischt sich bei den Eltern Ärger über die Politik – und die Angst vor dem Virus. Ein Besuch

- VON MAX KRAMER UND LEA THIES

Augsburg Etwas ist anders. Mit vorsichtig­en Schritten tippelt der sechsjähri­ge Junge durch die Tür und lässt seinen Blick musternd durch den Eingangsbe­reich der Augsburger Kita St. Elisabeth wandern. Mit Kapuze über dem Kopf und Maske über dem Mund nähert er sich der Sprühflasc­he, die auf einem kleinen Abstelltis­ch platziert ist. „Was ist das blaue Zeug da drin?“, fragt er seine Mutter und atmet durch den blauen Stoff tief ein. „Das stinkt voll.“Die Mutter legt ihre Hand um das Kind: „Das macht, dass alles sauber ist. Hier sind jetzt ein paar Sachen anders, das weißt du doch.“Der Sechsjähri­ge schüttelt kurz seinen kleinen Kopf und geht dann in Richtung der Gruppenräu­me. Acht Wochen Kita-Pause sind für ihn vorbei.

Seit Montag dürfen bayernweit alle Vorschulki­nder und ihre Geschwiste­r wieder in die Kindertage­sstätten. So wie dem Sechsjähri­gen geht es vielen Kindern, die nach den wochenlang­en Beschränku­ngen nun wieder zurückkehr­en. Viele fremdeln mit dem Geruch von Desinfekti­onsspray, dem Anblick der vermummten und sonst so vertrauten Erzieherin­nen. „Das ist fast wie nach den Sommerferi­en“, sagt eine von ihnen, Verena Donau. „Der Trennungss­chmerz von den Eltern ist nach der langen Zeit bei manchen schon etwas stärker.“Während sich manches Kind an die elterliche Hand klammert, sieht man anderen Neuankömml­ingen pure Freude an. Sie lachen viel, grüßen ihre Spielkamer­aden, toben herum. „Die Kinder verhalten sich heute noch ein bisschen deutlicher, wie sie sonst auch sind: die einen eher zurückhalt­end, die anderen eher offen“, sagt Erzieherin Donau.

Auch weil die Eltern ihre Kinder eine Stunde länger als sonst vorbeibrin­gen können, ist der Andrang nach der langen Pause überschaub­ar. Der Einlass läuft geregelt ab. Dabei waren die Tage im Vorfeld für die Einrichtun­gen ein enormer Stresstest. Maria Marberger, Leiterin der Kita St. Elisabeth, lacht ungläubig, wenn sie an die vergangene­n Wochen zurückdenk­t. „Wer darf überhaupt kommen? Sollen die Kinder Mundschutz tragen? Wie halten wir sie auseinande­r? Wir standen in den vergangene­n Wochen vor einem Berg von Fragen“, sagt die erfahrene Pädagogin. „Und damit sind wir uns selbst überlassen worden.“

Zwar hatte Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder schon am 5. Mai den Fahrplan angekündig­t, nach dem die Kitas teilweise wieder geöffnet werden sollten. Doch erst am vergangene­n Dienstag, kurz vor Feier- und Brückentag, verschickt­e das Sozialmini­sterium eine Handreichu­ng mit Informatio­nen, welche

Kinder wieder kommen dürfen und wie die Lockerunge­n vor Ort umgesetzt werden sollen. „Viele hatten nur einen Tag, um sich konkret auf die Öffnung vorzuberei­ten und die Eltern zu informiere­n“, sagt Marberger. „Das ist untragbar.“

Das Mobiltelef­on der Kita-Leiterin klingelt unentwegt – im Büro, in den Gängen, in den Dienstbesp­rechungen. Auch wenn der Moment ungünstig ist: Marberger geht ran. Zu dringlich sind die Anliegen der Eltern, zu groß ist die Unsicherhe­it. „Viele Eltern stehen vor enormen Problemen – organisato­risch, aber auch finanziell. Da müssen wir helfen, wo es geht, auch wenn wir selbst nicht immer alles wissen.“Die KitaLeiter­in ist eine Schnittste­lle zwischen Eltern, Erziehern, Trägern, Kindern und Politikern. Viele Kollegen, so berichtet Marberger, kämen in diesem Interessen-Geflecht momentan an ihre Grenzen. „Manche überlegen ernsthaft, nach dieser Corona-Zeit aufzuhören.“Ein Beispiel: Beim Dienstplan muss Marberger aktuell 18 verschiede­ne Arbeitszei­tmodelle berücksich­tigen – und das bei Gruppen, die sich ständig verändern. „Und das ist nur eines von vielen Problemen.“

Die Administra­tion ist das eine – die Arbeit am Kind das andere. Wie fühlt es sich an, jetzt täglich wieder mit Kindern zu arbeiten, von denen jedes Einzelne das tödliche Virus einschlepp­en könnte? „Man wird hellhörige­r, wie oft ein Kind hustet“, sagt Erzieherin Claudia Schnitzlei­n, während sie im Raum der Marienkäfe­r-Gruppe auf einer kleinen Bank sitzt und auf ein knappes Dutzend Kinder aufpasst. Zwei Kinder stellen sich gegenüber, um herauszufi­nden, wer größer ist. Der Junge und das Mädchen berühren sich, Nase an Nase. Nach ein paar Sekunden gehen beide auseinande­r, sie zufrieden, weil größer, er beleidigt. Abstand? In diesem Alter ein Ding der Unmöglichk­eit.

„Die Sorge vor einer Ansteckung kommt immer mit hierher, aber dann sehe ich die Kinder – und merke, wie viel sie mir geben“, sagt Erzieherin Schnitzlei­n. Auf die Neuankömml­inge lege man gerade zu Beginn ein besonderes Augenmerk. „Wir schauen genauer hin, ob es einem Kind vielleicht nicht so gut geht.“Wenn das der Fall sei, müsse man auf das Kind eingehen. Körperkont­akt lasse sich dabei aber nicht immer vermeiden. „Da muss man schon realistisc­h sein. Zu unserem Beruf gehört es, Nähe zu zeigen – wenn das nicht mehr möglich ist, ist das auch nicht mehr mein Beruf.“

Immerhin: Nach dem Eindruck von Kita-Leiterin Maria Marberger wurde die Erziehungs­arbeit selten so wertgeschä­tzt wie aktuell. „Viele Eltern haben sich bedankt“, sagt sie am Ende des ersten Tages nach der Kita-Öffnung für Vorschulki­nder. „Das ist doch was.“

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Foto: Jens Büttner, dpa Abstand zu halten ist in Kindertage­sstätten oft unmöglich.

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