Theater im Lieferservice
Das Augsburger Staatstheater nutzt die Corona-Krise als Chance. Es gibt jetzt Inszenierungen, die das Publikum zu Hause mit spezieller Technik sehen kann
Mit fragendem Gesichtsausdruck sieht einen Aksenti Iwanow Propristschin an und kommt dabei näher. Genau genommen kommt einem dieser Musterbeamte aus Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“in der Inszenierung des Staatstheaters Augsburg sogar sehr nahe. Denn die Vorstellung ist coronabedingt nicht in einem der Häuser des Staatstheaters zu erleben, sondern daheim in den eigenen vier Wänden. „Wenn Sie nicht ins Theater kommen können, dann kommen wir eben zu Ihnen“, verspricht Intendant André Bücker dem Publikum auf der Internetseite des Staatstheaters.
Theater in Corona-Zeiten, das sind vor allem Streams von Vorstellungen, Wunschkonzerte am Telefon, Internet-Tagebücher von Schauspielern oder Lesungen per Video. Für Theaterfans natürlich kein Ersatz fürs echte Bühnengeschehen. Das Staatstheater Augsburg geht noch einen anderen Weg, sucht nach kreativen Alternativen, nach einem möglichst realen Theatererlebnis in dieser bühnenfreien Zeit: Nach Bestellung und Bezahlung (9,90 Euro) liefert ein Mitarbeiter des Theaters eine 3D-Brille an die Haustür, die einen mitten hinein in eine virtuelle Aufführung bringt. Wie eine echte Vorstellung ist sie nur einmalig zu erleben, kann auch nicht vor- oder zurückgespult werden. Eine technische Überforderung muss der Zuschauer nicht fürchten, alles ist einfach handzuhaben. Und sollte doch etwas nicht funktionieren, hilft einem ein freundlicher Mitarbeiter unter einer Notfallnummer weiter.
Also Platz nehmen (empfohlen wird ein Drehstuhl), Brille einfach aufsetzen, wahlweise einen Kopfhörer anstecken und los geht es mit „Der Mitarbeiter – Tagebuch eines Wahnsinnigen“. Im Mittelpunkt des Monologes nach einer Novelle von Nikolai Gogol steht der Beamte Propristschin, Mitarbeiter in einem Ministerium. Alles hat seine Ordnung im Leben dieses einsamen, völlig auf sich bezogenen Mannes, der von seinen Vorgesetzten gegängelt wird. Niemand respektiert ihn, schon gar nicht die Tochter des Staatssekretärs, in die er sich verliebt hat. Die Missachtung und der Hohn seiner Mitmenschen machen aus dem Mann eine bemitleidenswerte Kreatur. Er hört Stimmen, sieht Hunde, die schreiben und sprechen und hält sich schließlich für König Ferdinand VIII., den spanischen Thronfolger.
Ganz subtil kann Thomas Prazak das Abrutschen in den Wahn spielen, denn man hat den Schauspieler in dieser VR-Inszenierung so direkt vor sich, wie es im Theater kaum möglich ist. Ein kleines Zucken um den Mund, ein kurzer stierer Blick genügen, um zu sehen, wie der Mann dabei ist, seine Fassung zu verlieren. Hier werden einem – unterstützt durch technische Effekte wie Überblendungen, Animationen und Klänge – der physische und psychische Verfall eines Menschen buchstäblich nahegebracht. Dabei ist man selbst immer in Bewegung: blickt nach rechts und links, dreht sich um, um dem Schauspieler zu folgen, sieht plötzlich Kritzeleien an den Wänden auftauchen. Kein frontales Konsumieren, sondern aktives Schauen ist angesagt. „Man ist als Zuschauer mit den Künstlern zusammen in einem Raum. Es ist eine Unmittelbarkeit, die es auch im Theater gibt“, beschreibt André Bücker, der den Monolog inszeniert hat, den besonderen Reiz der virtuellen Aufführungen.
„Der Mitarbeiter – Tagebuch eines Wahnsinnigen“ist die dritte Arbeit des Staatstheaters für die VRBrille. Neben dem Monolog „Judas“, der als Freilichtaufführung im vergangenen Jahr Premiere hatte und nun in der Augsburger Annakirche aufgenommen wurde, gibt es noch das Ballett „Shifting Perspective“, das wie das Gogol-Stück speziell für die VR-Brille kreiert wurde. Als Zuschauer nimmt man in erhöhter Position mitten auf der Bühne Platz und erlebt Tänzer, die an einem vorbeischweben, plötzlich unter einem auftauchen und auf einen zuspringen. Da kann einem etwas schwindelig werden. Setzt man dann die Brille ab, stoppt die Aufführung, zieht man sie wieder auf, fährt sie an selber Stelle fort.
Mit einer speziellen 360-GradKamera werden die Stücke für die 3D-Brille aufgenommen. Die technischen Voraussetzungen dafür waren bereits da: Denn auch die Gluck-Oper „Orfeo et Eurydice“, deren Premiere nun in die nächste Spielzeit verschoben werden musste, setzt auf Virtual Reality als besonderen Effekt in der analogen Theateraufführung. 500 Brillen hatte das Theater dafür angeschafft und mit der Augsburger Agentur Heimspiel einen Partner gefunden, der die technische Umsetzung realisieren konnte.
Für André Bücker sollte dies der Beginn einer „fünften Sparte“sein, die mit digitalen Elementen experimentiert und ein eigenes Repertoire aufbaut. Dass diese Sparte nun solchen Auftrieb erhält, war vor zwei Monaten noch nicht abzusehen. Am Staatstheater will man nun dranbleiben: Mit zwei weiteren Aufführungen, die in Arbeit sind, soll noch nicht Schluss sein. „Wir wollen die Möglichkeiten weiter erforschen und entwickeln, sodass auch interaktive Projekte möglich sind“, kündigt der Intendant an. Die Zuschauer werden dann nicht nur die eigene Blickrichtung auf das Bühnengeschehen wählen, sondern auch Einfluss darauf nehmen können.
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Virtual-Reality-Inszenierungen sind zu buchen unter www.staatstheater-augsburg.de. Innerhalb Augsburgs gibt es einen Lieferservice; an anderen Orten können die Aufführungen mit eigener VR-Brille über einen Code gesehen werden.