Literatur
Marcel Reich-Ranicki: Eine Hymne zum Hundertsten
Herr Wittstock, am Dienstag hätte Marcel Reich-Ranicki seinen 100. Geburtstag gefeiert, wie haben Sie ihn persönlich kennengelernt?
Uwe Wittstock: Ich war damals 24, Student der Germanistik, und habe mich bei ihm als Redakteur beworben. Er hat mich sehr genau ausgefragt, was ich gelesen hätte, zum Beispiel von Heinrich von Kleist. Ich antwortete vollmundig: alles. Das stimmte aber nicht, prompt hat er nach dem Stück „Käthchen von Heilbronn“gefragt, das ich nicht kannte. Ich tat so, als hätte ich den Inhalt kurzfristig vergessen, aber er hat mir nicht geglaubt, sondern mich ermahnt, ehrlich zu antworten. Engagiert hat er mich trotzdem, weil ihm die Probeartikel gefielen. Die Pointe an der Geschichte ist für mich: Als Reich-Ranicki 1944 den Holocaust überlebt hatte, war er 24 Jahre alt, so alt wie ich bei unserem Einstellungsgespräch. Er hatte da schon fünf Jahre tägliche Todesgefahr hinter sich. Er hätte sich damals nie so viel Leichtfertigkeit leisten können, wie ich im ersten Gespräch mit ihm. In solchen Momenten merkt man, was für eine glückliche Jugend man gehabt hat.
Was für einen Menschen haben Sie kennengelernt?
Wittstock: Einen ungeheuer klugen, schlagfertigen, witzigen Mann, der sehr anspruchsvoll war. Er erwartete hohe Konzentration und sehr viel Leistung von seinen Mitarbeitern. Hat sich aber auch viel Zeit genommen, um mit ihnen über ihre Arbeit zu reden und Ratschläge zu geben.
Was hatten Sie für ein Verhältnis zu Marcel Reich-Ranicki?
Wittstock: Das typische LehrerSchüler-Verhältnis. Ich war sehr jung, meine Stelle in seiner Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen war mein erster Arbeitsplatz nach der Universität. Natürlich habe ich versucht, als Literaturkritiker meine Linie zu finden. Aber, seien wir ehrlich, das war nur für mich wichtig. Von außen muss das ausgesehen haben wie ein kleines Motorboot, das neben seinem riesigen Kreuzfahrtdampfer seinen eigenen Kurs steuert.
Wie haben Sie ihn in Erinnerung behalten?
Wittstock: Wir sind uns, nachdem ich die Frankfurter Allgemeine verlassen hatte und für andere Zeitungen arbeitete, viel näher gekommen als zuvor. Ich habe ihn oft besucht, wurde eingeladen von ihm und seiner Frau Tosia, habe die ganze Familie kennengelernt. Da liegt es natürlich nahe zu sagen, er sei so eine Art Ersatzvater gewesen. Aber für mich war es eher wie die Begegnung mit einer Figur wie aus einem fantastischen Roman: eine Mischung aus einem Gelehrten und einem Entertainer, aus Goethe und Gottschalk, aus fröhlichem Philosophen und nachdenklichem Spaßmacher.
Was war das Geheimnis von Marcel Reich-Ranickis Erfolg, wie hat er es geschafft, zum Literaturpapst Deutschlands aufzusteigen? Wittstock: Aus seinem Geheimnis hat er nie ein Geheimnis gemacht. Er schrieb nie für die Insider des Literaturbetriebs, sondern immer für das Publikum, also für die gewöhnlichen Leser. Die Streitigkeiten unter Intellektuellen fand er zweitrangig. Er wollte die Menschen teilhaben lassen an dem Glück, das er beim Lesen eines großartigen Buches empfand – oder an dem Zorn, in den ihn ein schlampig oder verquast geschriebenes Buch versetzte. Er war, wenn man so will, der Volkstribun unter den Kritikern: Er vertrat keine abstrakten Thesen, sondern den berechtigten Wunsch eines großen Publikums nach einem anspruchsvollen Buch, das beim Lesen zugleich gut unterhält. Das hat das Publikum gespürt. Seine größten Fans hatte er unter gewöhnlichen Lesern, nicht unter Kritikern. Diese Fans haben ihn zum Literaturpapst gemacht, die Kritikerkollegen haben ihn mit Vorliebe bekämpft.
Waren Sie mit den Urteilen Ihres Vorgesetzten einverstanden? Wittstock: Natürlich nicht. Oder zumindest: nicht immer. Kritiker sind sich nie einig, es ist auch nicht ihr Job. Der Job des Kritikers ist, seinen Standpunkt zu vertreten und so klar wie möglich zu machen. Natürlich fand ich, dass Reich-Ranicki manchmal falsch lag – und dass mein eigenes Urteil viel angemessener ist. Aber all das ist letztlich lächerlich. Reich-Ranickis einzigartiges Talent war die Fähigkeit, andere Menschen mit seiner Begeisterung für ein Buch anzustecken, sie für Literatur zu interessieren und sie zum Lesen zu bringen. Das hat bis heute noch kein anderer besser gemacht als er.
Marcel Reich-Ranicki wirkte immer wie ein Mensch, der sich vor keinem Streit scheute. Wie haben Sie ihn privat erlebt, war er da genauso? Wittstock: Ja, einen Streit hat er tatsächlich nie gescheut. Im Gegenteil, Streit hat ihn überhaupt erst belebt und in Schwung gebracht. Er liebte Meinungsverschiedenheiten, auch weil er der Meinung war, dass es die einzig gültige Wahrheit nicht gibt, zumal nicht in literarischen Fragen.
Um noch einmal mit einem Zitat zu antworten, Lessing meinte: „Jeder sage, was ihn Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.“Das war auch Reich-Ranickis Überzeugung: Nur wenn die Argumente heftig aufeinanderprallen, klären sich die verschiedenen Standpunkte und man hat eine Chance, der Wahrheit näherzukommen. Wichtig war für ihn, sich beim Streiten nicht mit seinen Gegnern zu zerstreiten. Sein Ideal war, sich nach dem Streit die Hand zu reichen, sich zu versöhnen und sofort den nächsten Streit zu beginnen.
Warum haben Sie vor 15 Jahren eine Biografie über Marcel Reich-Ranicki geschrieben? Was erzählen Sie darin, das Reich-Ranicki in seiner Autobiografie „Mein Leben“nicht erzählt?
Wittstock: Wer sich selbst beschreibt, erzählt eine andere Geschichte als derjenige, der denselben Menschen von außen beschreibt. Das weiß jeder. Das wusste auch Reich-Ranicki. „Jeder Autobiograf schont sich selbst“, hat er mal gesagt, „auch wenn er sich das Gegenteil vorgenommen hat. Ich habe auch einiges weggelassen.“Es gibt keine Selbstbeschreibung ohne Selbststilisierung. Darin liegt die Chance des Biografen. Er ist bestimmt nicht klüger als der Autobiograf, aber er hat eine andere Perspektive und kann ein anderes Bild malen.
Was bleibt heute, sieben Jahre nach dem Tod von Reich-Ranicki, vom Ruhm des Kritikers übrig? Wittstock: Reich-Ranicki ist der erfolgreichste Literaturkritiker, den es in der Geschichte der deutschen Literatur gab. Daran wird sich voraussichtlich so schnell nichts ändern. Zu seinem 90. Geburtstag sagten in einer Umfrage in Deutschland sagenhafte 98 Prozent der Befragten, dass sie seinen Namen kennen. Auf eine ähnliche Quote kommen wohl allenfalls Angela Merkel oder Franz Beckenbauer. Doch ein Punkt ist vielleicht noch wichtiger als sein unglaublicher Erfolg. Von dem Moment an, als er 1958 aus Polen nach Deutschland kam, hat er als Journalist und Literaturkritiker daran mitgearbeitet, dem Publikum klarzumachen, was für ein Menschheitsverbrechen der Holocaust war. Als Jude, dessen Eltern und dessen Bruder von Nazis umgebracht worden sind, hat er hier ungeheuer viel getan, um das Bewusstsein des Landes für die finsteren Seiten seiner Vergangenheit zu schärfen. Das halte ich für ein sehr, sehr großes Verdienst Reich-Ranickis.
Interview: Richard Mayr