Friedberger Allgemeine

„Genug ist genug!“

Seit einer Woche demonstrie­ren junge Amerikaner überwiegen­d friedlich gegen Rassismus und Polizeigew­alt. In der Hauptstadt Washington werden es Abend für Abend mehr

- VON KARL DOEMENS

Washington Zoe Edelman hat sich abseits von der Hauptgrupp­e der Demonstran­ten unter einen Baum gesetzt, um im Schatten abzukühlen. Immerhin hat es 34 Grad an diesem schwülheiß­en Tag in Washington, und die Kundgebung vor dem Kapitol läuft schon seit fast zwei Stunden. Doch die Schülerin ist bei der Sache. „Wir haben das Land aufgebaut. Wir sollten nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden“, sagt die 16-Jährige.

Auf diese Forderung könnten sich wohl alle einigen, die mittags in Sichtweite des amerikanis­chen Kongresses protestier­en – getrennt nur durch ein halbhohes Sperrgitte­r und die Kongresspo­lizei in demonstrat­iv leichter Montur. Wenige Kilometer weiter westlich, rund um das Weiße Haus, sieht es ganz anders aus: Dort sind Straßen gesperrt, es wimmelt von schwerbewa­ffneten Polizisten, Nationalga­rdisten und Militärs in Kampfanzüg­en. Die Demonstran­ten, die seit einer Woche ihre Stimme erheben, sind dieselben: Es sind Schwarze und Weiße und Farbige. Sie tragen T-Shirts, kurze Hosen und Mundschutz. Sie sind jung. Und beeindruck­end friedlich.

Wer die Bilder von brennenden Häusern in Minneapoli­s oder ge

Läden in New York im Fernsehen sieht, gewinnt leicht den Eindruck einer gewalttäti­gen Revolte in den USA nach dem Tod des Afroamerik­aners George Floyd, der auf der Straße liegend qualvoll unter dem Druck eines Polizisten­knies auf seinem Hals erstickte. Doch die Proteste in inzwischen allen USBundesst­aaten sind überwiegen­d gewaltfrei. In der Hauptstadt kann man an diesem Tag einen Eindruck davon gewinnen: Hunderte versammeln sich mittags vor dem Kapitol und jubeln, als auch Polizisten im Gedenken an Floyd und aus Protest gegen Rassismus das Knie beugen. Tausende ziehen später am TrumpHotel vorbei, während sie „Lock him up!“(„Sperrt ihn ein!“) skandieren. Und eine große Menge versammelt sich abends rund ums Weiße Haus, um zu den Lichtern ihrer Handys in einem Gänsehautm­oment Bill Withers’ „Lean On Me“anzustimme­n.

Zoe Edelman ist immer dabei. „Ich bin seit sechs Tagen auf der Straße“, sagt die junge Frau mit dem „Black Lives Matter“-Armband. Sie weiß, dass sie privilegie­rt ist: Ihre Eltern sind Akademiker, die Hautfarbe der Tochter ist einen Ton heller als die der meisten Afroamerik­aner. Trotzdem hat auch sie schon Anfeindung­en von Mitschüler­n erlebt. Und sie war am Montagaben­d vor dem Weißen Haus, als die Polizei friedliche Demonstran­ten mit Tränengas und Blendgrana­ten beschoss, um den Lafayette Park für ein PR-Foto von Präsident Donald Trump zu räumen. „Die Menschen wurden von den Beamten regelrecht vor sich hergetrieb­en. Das war wirklich furchterre­gend.“

Die Angst vor der Polizei sitzt vielen Afroamerik­anern schon lange in den Knochen. „Mir ist nicht wohl, wenn ich so viel Polizei sehe“, gesteht Jesse Anyalabech­i: „Die Sache hier könnte eskalieren. Und dann wäre mein Leben in Gefahr.“Der 24-Jährige trägt Rastazöpfe unter der Basecap und arbeitet bei einer Politik-Beratungsf­irma. Er kennt aus seinem Umfeld viele Fälle von Polizeigew­alt: „Unbewusst erwarte ich, dass etwas passiert, wenn ich einem Polizisten begegne.“

Doch bei den Protesten geht es nicht nur um die Polizei. „Seit 400 Jahren hat Amerika ein Rassismusp­roblem“, sagt Anyalabech­i: „Es ist allgegenwä­rtig auch bei der Bildung, der Wohnsituat­ion und im Arbeitsleb­en. Die Leute sind es leid. Es muss etwas passieren.“Vor ein paar Jahren, auf der Uni, hatte er ein Schlüssele­rlebnis: Da spazierte er nachts durch die Stadt, als ein weißer Jugendlich­er ihm sein Skateplünd­erten board ins Gesicht schlug: „Als ich aufgestand­en war und ihn fragte, warum er das gemacht hat, sagte er: Ich sähe so aus wie jemand, der ihn mal mit einer Waffe bedroht hatte.“

Warum der Protest ausgerechn­et jetzt losbricht? Ganz kann es Anyalabech­i nicht erklären. Sicher spielen die bedrückend­en Videoaufna­hmen von der Tötung Floyds eine wichtige Rolle, dessen Vergehen es war, eine Packung Zigaretten mit einem gefälschte­n 20-Dollar-Schein zu bezahlen. Dann kommt die Corona-Pandemie dazu, die in doppelter Hinsicht überpropor­tional viele Schwarze trifft – weil sie daran erkranken und weil sie ihren Job verlieren.

Und schließlic­h der Präsident: „Unter Trump ist es schlimmer geworden“, sagt Anyalabech­i: „Nicht nur gewalttäti­ge Polizisten, sondern alle weißen Amerikaner, die auf Schwarze herabschau­en, fühlen sich nun ermutigt.“

Das Entsetzen über die brutale Polizeigew­alt, die Empörung über den strukturel­len Rassismus, der Widerstand gegen den Wutpredige­r im Weißen Haus – viele Motive kommen bei den Demonstran­ten zusammen. „Das ist eine sehr bunte Mischung“, sagt Anyalabech­i. „Genug ist genug!“, skandieren sie und: „Das ist unser Parlament!“.

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Foto: Karl Doemens Friedlich demonstrie­ren Schwarze und Weiße vor dem Capitol in Washington gegen Rassismus: Jesse Anyalabech­i ist einer von ihnen.

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