Architektin Laura gerät ins Zwielicht
Fünf Tage entwickelt sich im Martinipark vor der Webcam das Stück „W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“. Die Zuschauer sind dabei
Keine Premiere weit und breit? Doch. In Halle C, Martinipark, halten sie durch, haben sogar Nerven und Ressourcen für eine weitere Uraufführung. Das Stück „W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“schrieb Regisseur Nicola Bremer ursprünglich für die Inszenierung auf einer Baustelle in Augsburg: Zwischen echten Kränen, Schutt und Presslufthämmern sollten Publikum und die fünf Figuren des Stücks nach Feierabend der Bauarbeiter aufeinandertreffen. Nicht der Konsum eines Stückes war das Ziel, sondern ein fünftägiges Happening als Work in Progress unter Beteiligung des Publikums. So hätte es sein sollen.
Im zweiten Lockdown wurden
Regiearbeit und Entwicklung jetzt für fünf Tage ins Internet verlegt. Auf Twitch.tv melden sich die Zuschauer unkompliziert an, bekommen eine E-Mail zur Bestätigung ihrer Teilnahme, um 18 Uhr geht’s los. Vier Stunden dauert jede Aufführung. Zweimal ist zwanzig Minuten Pause, der Theaterraum muss gelüftet werden. Ob zwischendurch eine Zuschauerin Mutti anruft und Kekse holt, wie die Chat-Leitung vorschlägt, bleibt unbeobachtet.
Drei mobile Kameras decken das Bühnengeschehen ab, zoomen auf die Darsteller, fangen die Blicke und Bewegungen ein. Dadurch kommen sie ganz nah, das Seherlebnis ähnelt eher einem Film als dem Theater.
Auf der kleinen Probebühne im Martinipark führen Regisseur Nicola Bremer und Dramaturgin Cornelia von Schwerin in das Stück ein. Ihnen gegenüber sitzen fünf Schauspieler des Staatstheaters: Mirjam Birkl (Laura), Florian Gerteis (Moderator), Patrick Rupar (Martina), Julius Kuhn (Yolanda, Emma, Soldat) und Andrej Kaminski. Dann ist da noch Oliver Skowronek, Graffitikünstler von der Vereinigung „Die Bunten“. Sein Job im Stück: Dinge an Wände sprühen und die Vorstellungskraft von Hauptdarstellerin Laura spielen.
Noch hat keiner einen Plan, was kommt. Rund 60 Zuschauer verfolgen diese ungewöhnliche Uraufführung, von der Bremer sagt: „So was gab es in Deutschland noch nie.“Damit meint er weniger die Zurschaustellung der eigenen kreativen Arbeitsprozesse: „Diese Form des Theatermachens gab es schon vor 80 Jahren. Absolut neu und faszinierend sind die Übertragung und die Beteiligung der Zuschauer auf einer digitalen Plattform“, erklärt er. Bremer selbst ist bereits international für seine radikalen Beteiligungsformate und ungewöhnlichen Aufführungsorte bekannt. Sogar ein jordanisches Flüchtlingslager machte er schon zur Bühne und die Menschen dort zu aktiven Darstellern seiner Inszenierung.
Der Abend im Martinipark hatte zu Beginn technische Schwierigkeiten, die dem erheblichen Datenvolumen der Kameras geschuldet waren. Ton und Bild liefen erst nach der ersten Pause wirklich synchron. Doch die Geschichte schälte sich im Lauf der unterhaltsamen Arbeit schon mal heraus: Laura, eine überehrgeizige Architektin auf dem Weg zum Star, hat eine Freundin, die im Denkmalviertel der fiktiven Stadt Adelma wohnt. Von hier verschwinden regelmäßig Menschen, auch die Freundin ist plötzlich weg. Ein Investor, der das Areal kauft, erteilt Laura den Auftrag, das Viertel zu sanieren. Doch es passiert nichts. Stattdessen gerät Laura zwischen die Fronten von Aktivisten, Spekulanten und Politikern. Und auch
Vier Stunden dauert jede Aufführung
Der Regisseur filmt sich selbst am Spielfeldrand
Shark Trust scheint in dunkle Machenschaften verstrickt zu sein.
Im Martinipark tigert der Regisseur mit Bauarbeiterhelm und Fisheye-Kamera am Spielfeldrand hin und her. Seine Kamera filmt ihn selbst im Weitwinkel. Jedes Stirnrunzeln ist zu sehen. Auch das Lachen, wenn Moderator Florian Gerteis für seine Show so richtig aufdreht und sogar für Werbeeinblendungen zu tanzen beginnt. Insgesamt ist „W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“eine innovative, kreative und unterhaltsame Sitcom mit NetflixFeeling: Wer jetzt nicht mitschauen kann, bekommt für die zweite Folge im nächsten Jahr eine neue Chance. ⓘ
Termine Noch 26. und 27. November, 18 bis 22 Uhr live auf twitch.tv.