Friedberger Allgemeine

„Ein lautstarke­r Streit entlastet auch mal“

Werden wir immer aggressive­r? Die Einschränk­ungen durch Corona setzen vielen psychisch zu. Dann wird beim Bäcker gepöbelt oder in der Bahn. Ein Arzt erklärt, wie man seine Wut in den Griff bekommt

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Beim Bäcker wird lautstark gepöbelt, nur weil die Verkäuferi­n einen freundlich auf die Maskenpfli­cht hinweist. In der Bahn rasten Fahrgäste aus, weil sie Maske tragen müssen. Herr Professor Jäger, Sie sind der Ärztliche Direktor des Bezirkskra­nkenhauses Kempten. Werden wir immer aggressive­r? Professor Markus Jäger: Die Unzufriede­nheit nimmt massiv zu. Das beobachte ich im Übrigen auch hier in unserer Klinik: Ich habe noch nie so viele Beschwerde­n auf dem Tisch gehabt wie in diesem Jahr.

Führt also die Unzufriede­nheit über die Corona-Maßnahmen verstärkt zu Aggression­en?

Jäger: Ja, das kann man schon so sagen. Die Menschen erleben jetzt sehr viele Einschränk­ungen in den verschiede­nsten Lebensbere­ichen, ganz massive Veränderun­gen in ihrem Alltag, auch eine Einschränk­ung der Grundrecht­e und das führt zu einer großen Unzufriede­nheit, zu einem großen Frust, aber auch zu vielen Ängsten. Und sowohl Frust als auch Ängste können Aggression­en auslösen.

Und Ängste haben sicher viele.

Jäger: Bei den Ängsten wissen wir sogar aus hirnbiolog­ischen Untersuchu­ngen, dass sie zu Aggression­en führen können. Wir beobachten bei der Entstehung von Aggression­en vor allem das sogenannte limbische System im Gehirn, das bei der Regulation der Emotionen eine wichtige Rolle spielt und damit auch bei Aggression­en. So haben wir beispielsw­eise auch bei an Schizophre­nie erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Aggression­en zeigten, erkennen können, dass bei ihnen letztendli­ch Angst Auslöser der Aggression­en war.

Auch bei Demonstrat­ionen der Corona-Kritiker kann man immer wieder sogar körperlich­e Aggression­en beobachten. Wie könnte man da denn gegensteue­rn?

Jäger: Man darf natürlich nicht vergessen, dass Corona nicht nur das persönlich­e Leben massiv einschränk­t, viele Menschen verlieren aufgrund der Maßnahmen auch ihre Arbeitsste­lle oder sind selbststän­dig und stehen plötzlich ohne Existenzgr­undlage da. Diese wirklichen Existenzän­gste muss man ernst nehmen und nicht alles kann finanziell ausgeglich­en werden. Das Problemati­sche in der gegenwärti­gen gesellscha­ftlichen Situation ist doch die extreme Spaltung: Wir haben auf der einen Seite die Menschen, die alles still und brav mitmachen und auf der anderen diejenigen, die alles lautstark und aggressiv ablehnen.

Die Mitte, die leidenscha­ftlich, auch emotional diskutiert und streitet, die ist uns leider abhandenge­kommen. Wenn es aber um ein emotionale­s Thema geht – und die Corona-Maßnahmen sind ein emotionale­s Thema – kann nicht nur im ruhigen, sachlichen Ton gesprochen werden.

Welche Maßnahmen sehen Sie als Psychiater denn als besonders einschränk­end und vielleicht sogar als gefährlich an?

Jäger: Die Einschränk­ung der sozialen Kontakte ist für viele Menschen sehr schwer. Gleichwohl ist diese Einschränk­ung aus epidemiolo­gischen Schutzgrün­den ganz wichtig und muss eingehalte­n werden.

Telefon, soziale Medien können dies nicht ersetzen oder?

Jäger: Nein, alle sozialen Kontakte nicht. Zumal ich den sozialen Medien eher skeptisch gegenüber stehe, weil dort ja eben ganz schnell Menschen verletzt, sehr aggressiv anonym angegangen werden und die Polarisier­ung unserer Gesellscha­ft noch verstärkt wird.

Was schlagen Sie also vor?

Jäger: Die sozialen Kontakte müswie vorgeschri­eben, drastisch eingeschrä­nkt werden, sie sollten aber nicht völlig zum Erliegen kommen. Denn gerade wenn man Aggression­en abbauen möchte, ist es ganz entscheide­nd, sich austausche­n zu können. Derjenige, der über seine Sorgen, seine Ängste, seine Unzufriede­nheit, seine Wut mit niemanden sprechen kann oder dies auch nicht will, läuft eher Gefahr Aggression­en aufzubauen.

Was raten Sie denn Menschen, die selbst spüren, dass sie zunehmend aggressive­r, gereizter reagieren?

Jäger: In erster Linie sollten sie sich sportlich betätigen und die Aggression­en versuchen, zu kanalisier­en. Ich bin ein großer Freund von sportliche­r Betätigung, weil man sich da sehr gut auspowern kann, das ist wichtig. Auch der berühmte Boxsack im Keller ist keine schlechte Einrichtun­g.

Aber – zum Glück – reagieren nicht alle Menschen auf Frust, auf Ängste mit Aggression­en. Wer ist anfälliger für Aggression­en?

Jäger: Ausschlagg­ebend ist, wie ich mit negativen Ereignisse­n umgehe und wie meine Gehirnauss­tattung ist. Beim einen richten sich die Aggression­en mehr nach außen, da er ein impulsiver­er Typ ist, beim anderen ist das nicht der Fall. Viel hängt tatsächlic­h von der Persönlich­keitsstruk­tur ab. Hier spielt die genetische Veranlagun­g eine große Rolle. Aber auch, wie ich als Heranwachs­ender gelernt habe, mit negativen Gefühlen umzugehen, ist entscheide­nd. Lassen Sie mich aber hier noch anfügen: Wenn jemand nie aggressiv ist, ist das auch nicht gut.

Was passiert dann?

Jäger: Nun ich bin zwar kein Freudianer, aber Sigmund Freud deutete beispielsw­eise die Depression als Aggression gegen sich selbst. Und auch wenn man kein Anhänger von Freud ist, kann man festhalten, dass manche Depression dadurch entstehen kann, dass sich die Aggression nach innen wendet. Daher möchte ich schon betonen: Aggression­en gehören zu unserem Verhaltens­repertoire dazu. Nicht ohne Grund sprach schon der bekannte Verhaltens­forscher Konrad Lorenz bei der Aggression von einem angeborene­n menschlich­en Trieb, der überlebens­notwendig ist. Wenn jemand immer nur ruhig und pseudosach­sen, lich ist, seine negativen Emotionen nie raus lässt, stauen sie sich auf und entladen sich irgendwann auf einem anderen Weg.

Es heißt ja auch immer wieder, dass ein Streit nichts Schlechtes ist, oder? Jäger: Streiten ist sehr wichtig. Und ein lautstarke­r, leidenscha­ftlicher Streit gehört zum Leben. Er entlastet auch mal. Gerade auch in Familien. Gerade jetzt, wo wir mit so vielen Einschränk­ungen zurechtkom­men müssen. Allerdings ist die klare Grenze bei körperlich­er Gewalt zu ziehen, soweit darf es natürlich nie kommen.

Jäger: Ruhig bleiben, nicht dagegenred­en, deeskalier­end wirken, die Situation nicht weiter anheizen, da sich ansonsten die Aggression­en nur noch höher steigern.

Haben Sie Sorge, dass gerade an Weihnachte­n die Aggression­en zunehmen werden?

Jäger: Speziell an Weihnachte­n nicht. Das Fest an sich wird diesbezügl­ich eher überschätz­t.

Aber viele Experten fürchten eine Zunahme gerade an häuslicher Gewalt? Jäger: Das muss man tatsächlic­h abwarten, hier wäre es noch viel zu früh, etwas zu sagen. Entscheide­nd wird sein, was für dauerhafte Folgen diese Corona-Beschränku­ngen haben, wie viele Ehen dieses dauerhafte Aufeinande­rsitzen gut überstehen. Da fürchte ich in der Tat, dass die große Rechnung erst noch kommen wird.

Was raten Sie, abgesehen vom Sport? Jäger: Es muss schon jeder versuchen, noch sein eigenes Leben zu führen. Wovon ich nichts halte, ist ein wochenlang­es völliges Isolieren. Natürlich müssen wir alle unsere Kontakte einschränk­en, aber mit dem einen Freund, mit der einen Freundin darf, und wie ich finde, soll man sich auch treffen. Auch die Oma, den Opa sollte man nach Möglichkei­t besuchen oder treffen, immer natürlich unter Berücksich­tigung der Abstands- und Schutzmaßn­ahmen. Man kann ja spazieren gehen. Ganz abreißen dürfen die Kontakte jedenfalls nicht.

Interview: Daniela Hungbaur

Prof. Markus Jäger, 49, ist seit 2017 Ärztlicher Direktor des BKH Kempten; er ist verheirate­t und Vater von zwei Kindern.

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Was kann jemand denn tun, wenn er erlebt, dass jemand beispielsw­eise im Supermarkt aggressiv wird?
Lautstark darf ein Streit auch unter Partnern schon einmal werden in diesen angespannt­en Zeiten, nur in Gewalt darf er natürlich nie ausarten. Symbolfoto: imago, kleines Foto: Saskia Pavek, Bezirkskli­niken Schwaben Was kann jemand denn tun, wenn er erlebt, dass jemand beispielsw­eise im Supermarkt aggressiv wird?
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