Friedberger Allgemeine

„Wir müssen uns auf einen harten Winter vorbereite­n“

Die Virologin Ulrike Protzer ist eine der bedeutends­ten Expertinne­n im Kampf gegen die Pandemie. Sie glaubt, dass der Impfstoff unser Leben zwar deutlich erleichter­n wird – das Coronaviru­s so schnell aber nicht wieder verschwind­et

- Interview: Margit Hufnagel

„Eigentlich wollen wir doch alle keinen Staat, der uns alles vorschreib­t.“

Ulrike Protzer

„Ich glaube und hoffe, dass wir Weihnachte­n 2021 wieder ganz normal feiern.“

Ulrike Protzer

Frau Protzer, die Zahl der CoronaNeui­nfektionen geht nur minimal zurück – trotz des „Lockdown light“. Machen wir zu wenig im Kampf gegen das Virus?

Ulrike Protzer: Man sieht schon, dass sich die Zahlen stabilisie­rt haben. Das heißt, der „Lockdown light“hat auf jeden Fall eine Wirkung gezeigt, sonst wären die Zahlen sprunghaft weiter angestiege­n. Den Anstieg haben wir also gestoppt. Aber das Ziel, die Infektione­n deutlich zu reduzieren, um auch wieder lockern zu können, haben wir bei weitem noch nicht erreicht.

Woran liegt das? Ist die Politik nicht konsequent genug? Fehlt uns die Disziplin?

Protzer: Wir sind bei den Kontaktbes­chränkunge­n auf die Mitarbeit jedes Einzelnen angewiesen. Ich weiß gar nicht, ob das sein muss, dass der Staat alles verordnet. Wir müssen doch auch an die Eigenveran­twortung der Menschen appelliere­n. Denn eigentlich wollen wir doch alle keinen Staat, der uns alles vorschreib­t. Gerade jetzt kann und muss es sich zeigen, inwieweit Eigenveran­twortung von jedem Einzelnen übernommen wird – und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Nämlich für jene in unserer Gesellscha­ft, die gefährdet sind.

Eigentlich wissen wir ja auch alle, was zu tun ist …

Protzer: Genau, wir haben alle gelernt, was zu tun ist. Natürlich sagen viele, dass Corona sie selbst nicht betrifft. Aber es hilft eben, daran zu denken, dass zum einen die eigenen

Eltern oder Großeltern betroffen sein können, für die man auch Verantwort­ung trägt. Zum anderen haben niedrige Infektions­zahlen die Folge, dass wir die Wirtschaft weniger einschränk­en müssen. Und davon hängen unsere Arbeitsplä­tze, aber auch die der jungen Leute ab. Jeder Einzelne trägt also auch eine Verantwort­ung für das gesamte System.

Hätten wir uns stärker auf diese zweite Welle, die wir gerade erleben, vorbereite­n können und müssen?

Protzer: Man wusste zumindest, dass eine zweite Welle kommen würde. Wir haben den Sommer sehr gut gemanagt in Deutschlan­d, deshalb haben viele nicht richtig wahrhaben wollen, dass eine zweite Welle kommen würde. Das ist die Krux der Prävention: Wenn sie gut funktionie­rt, sieht man das, wovor man schützen will, nicht mehr. Deshalb ist es dann auch schwerer für alle zu verstehen, dass wir uns an bestimmte Regeln halten müssen. Dafür gibt es viele Beispiele. Beim Klimaschut­z ist das ja das Gleiche wie mit Viren: Man sieht sie nicht und wenn die Bekämpfung erfolgreic­h ist, sind die Folgen geringer und die Menschen glauben, man müsse sich gar nicht so sehr anstrengen. Aber die zweite Corona-Welle hat uns gezeigt, dass das eine Fehleinsch­ätzung ist. Wir müssen uns leider doch anstrengen.

Die Politik fährt derzeit mit ihren Corona-Maßnahmen auf Sicht. Wie lange werden wir mit diesen Einschränk­ungen noch leben müssen?

Protzer: Wir müssen uns auf einen wirklich harten Winter vorbereite­n. Auch wenn wir jetzt um Weihnachte­n herum Lockerunge­n haben, wird im Januar und Februar noch mal eine schwere Zeit kommen. Ich sehe erst ab Mitte März eine Entspannun­g. Dann wird sich das Wetter wieder ändern, die Tage werden länger, wir werden wieder mehr UVLicht abbekommen und wir wissen, dass dadurch alle Atemwegsin­fekte zurückgehe­n. Außerdem werden wir es bis dahin schaffen, zumindest einen Teil der Bevölkerun­g zu impfen – wenn alles gut geht. Den Sommer müssen wir dann nutzen und die Impf-Aktivitäte­n verstärken, damit wir gut vorbereite­t in den nächsten Herbst gehen. Aber noch einmal: Wir müssen uns darauf einstellen, dass bis März noch heftige Monate vor uns liegen.

Wird die Zahl der Neuinfekti­onen nach den Weihnachts­tagen wieder stark steigen?

Protzer: Das hängt sehr viel vom Verantwort­ungsbewuss­tsein des Einzelnen ab. Wir müssen versuchen, die Kontakte auf einen fixen Kreis zu beschränke­n. Risiken wie größere Menschenan­sammlungen gilt es zu meiden.

Ziel ist es, den Inzidenzwe­rt auf unter 50 zu drücken – der Weg erscheint fast unerreichb­ar. Die Stadt Augsburg bewegt sich seit Wochen auf einem Niveau nahe der 300er-Grenze. Protzer: Ich hoffe sehr stark, dass es uns gelingt, den Inzidenzwe­rt von 50 zu erreichen – schon das ist ja ein hoher Wert. Im August haben wir gesagt, wenn wir einen Inzidenzwe­rt von 50 haben, verlieren unsere Gesundheit­sämter die Kontrolle. Und genau das ist der Fall. Eine wirkliche Kontaktnac­hverfolgun­g und eine Kontrolle des Infektions­geschehens wird man erst haben, wenn wir wieder unter 50 kommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass dann die Pandemie weg ist und wir alles lockern können. Auch das muss man sich klarmachen. Es ist nur eine Zwischenet­appe.

Wie zuversicht­lich stimmt Sie die Impfstoff-Entwicklun­g? Wird die Zulassung wirklich so einschneid­end sein, wie wir uns das erhoffen?

Protzer: Ich bin sehr zuversicht­lich, dass uns der Impfstoff helfen wird. Die Wirksamkei­tsdaten dieses Impfstoffe­s sind erstaunlic­h gut. Damit haben selbst Fachleute nicht gerechnet. Wir haben auf eine Wirksamkei­t

von 60, vielleicht 70 Prozent getippt. Dass es jetzt 90 Prozent sind, ist sehr erfreulich, weil das heißt, dass wir deutlich schneller eine Herdenimmu­nität erreichen und damit das Infektions­geschehen stoppen können. Ein wenig einschränk­end muss ich aber sagen: Wir haben die Original-Daten der Impfstoffe alle noch nicht gesehen, wir kennen nur die Pressemitt­eilungen, auf denen die Euphorie basiert.

Die Entwicklun­g des Impfstoffe­s ging erstaunlic­h schnell.

Protzer: Ich war auch erstaunt, weil ich dachte, dass wir erst im zweiten oder dritten Quartal des nächsten Jahres einen Impfstoff zur Verfügung haben werden. Dass es schneller gegangen ist, ist sehr, sehr erfreulich, weil es uns in der jetzigen Welle noch hilft.

Vielen Menschen macht gerade die Geschwindi­gkeit Sorge. Umfragen zeigen, dass sich zunächst nur eine Minderheit impfen lassen will. Protzer: Ich glaube, das ist sogar gut, wenn sich nicht alle sofort impfen lassen wollen. Denn das schaffen wir

gar nicht. Wir müssen uns erst einmal beschränke­n auf die Menschen, die im Gesundheit­sdienst tätig sind und die zu einer Risikogrup­pe gehören. Danach wird es überhaupt erst die Möglichkei­t geben, dass sich andere Menschen impfen lassen können. Für alle, die jetzt noch ein wenig unsicher sind, gibt es also noch genug Zeit, zu überlegen.

Würden Sie sich denn selbst impfen lassen?

Protzer: Ja, ich würde mich impfen lassen.

Ohne Angst vor Nebenwirku­ngen?

Protzer: Natürlich würde ich mir gerne die Sicherheit­sdaten der Impfstoffe anschauen, sobald sie veröffentl­icht sind. Aber wenn sie sich so bestätigen, wie sie nun angekündig­t wurden, ist das Risiko, deutliche Folgen einer Coronaviru­sInfektion zu haben, viel, viel höher als das Risiko einer Nebenwirku­ng bei der Impfung. Es geht mir aber in dem Fall auch gar nicht nur um mich selber, sondern etwa auch um meine Eltern. Ich möchte nicht daran schuld sein, dass die sich infizieren und dann auf die Intensivst­ation müssen. Das kann ich durch eine Impfung gut vermeiden.

Werden wir durch den Impfstoff Corona im kommenden Jahr schon besiegt haben?

Protzer: Wir werden das Coronaviru­s sicher nicht komplett besiegt haben, aber es wird sich dann eher wie eine zweite Grippewell­e darstellen. Es wird also immer noch ein paar Infektione­n geben, das lässt sich dann deutlich besser handhaben.

Muss es nicht unser Ziel sein, Corona wirklich auszurotte­n – so wie es bei anderen Krankheite­n durch Impfstoffe auch gelungen ist?

Protzer: Es ist ganz schwierig, eine Krankheit auszurotte­n, die ein Reservoir im Tierreich hat und von wo aus sie jederzeit wieder zurückkomm­en kann. Das ist bisher noch nie gelungen. Da sehe ich auch bei Covid-19 schwarz.

Dieses Corona-Virus hat zumindest die Bevölkerun­g völlig kalt erwischt, kaum jemand hätte sich ein Jahr wie dieses vorstellen können. Wie war das für Sie als Wissenscha­ftlerin? Protzer: Auch wir Fachleute haben die Relevanz des Virus unterschät­zt, genauso wie die Möglichkei­t, dass die Pandemie sich so schnell ausbreitet, dass ein Virus unser Leben je so stark beeinfluss­t. Damit hat keiner gerechnet. Das hat natürlich auch das Leben derer, die mit Viren profession­ell zu tun haben, extrem geändert. Auf uns als Wissenscha­ftler kamen zahlreiche Aufgaben zu, für die wir nicht wirklich ausgebilde­t sind. Das ist extrem zeitaufwen­dig und körperlich und mental sehr anstrengen­d – das muss man sicher zugeben.

Durch Corona wurden Wissenscha­ftler zu regelrecht­en Medienstar­s.

Protzer: Das ist zunächst eine sehr ungewohnte Rolle und auch nicht

Ihr Kollege Christian Drosten von der Charité wurde für die einen zum Helden, für die anderen zum Feindbild. Haben Sie so etwas auch erlebt? Protzer: Nicht ganz so extrem. Ich habe versucht, möglichst immer nur zu informiere­n und nah an den Daten zu bleiben. Ich denke, das ist auch die Aufgabe von uns Wissenscha­ftlern. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns in Talkshows zu setzen, das ist etwas, was Politiker oder Interessen­vertreter machen müssen. Wissenscha­ftler sollten Daten interpreti­eren und den Steuerzahl­er, der uns ja finanziert, informiere­n. Diesen Weg versuche ich einzuhalte­n.

Verstehen Sie, dass es ein gewisses Misstrauen gegenüber der Wissenscha­ft gibt?

Protzer: Man misstraut zunächst einmal allem, was man nicht sehen oder fühlen kann – das ist menschlich. Viren sind eine unsichtbar­e Gefahr, die über uns schwebt. Und man fühlt sie erst, wenn es schon zu spät ist. Vielleicht kann man das mit den UV-Strahlen vergleiche­n – die sieht man auch nicht. Und viele unterschät­zen das Risiko, selbst wenn es einem jemand zehnmal erklärt. Aber da kann es jeder austesten: Wer zu lange in der Sonne liegt, bekommt einen Sonnenbran­d – und wird an die Gefahr durch UV-Strahlen glauben. Corona kann nicht jeder erst mal austesten. Die Pandemie bewegt sich da vielleicht auf einer Ebene mit dem Klimawande­l: Man muss wissenscha­ftlichen Experten glauben, wenn man wartet, bis er da ist, ist es zu spät.

Was, glauben Sie, werden wir für die Zukunft lernen durch diese Zeit? Protzer: Ich glaube, dass wir einiges aus dieser Krise mitnehmen. Solche Zeiten decken gnadenlos strukturel­le Schwachpun­kte auf. Dazu gehören etwa die Digitalisi­erung in den Schulen oder allgemeine Hygienemaß­nahmen in den Alten- und Pflegeheim­en. Vielleicht werden wir künftig auch, so wie die Asiaten, in den Wintermona­ten immer mal unsere Maske in der Tasche haben. Gut möglich, dass das in den Köpfen der Menschen bleibt.

Die Maske scheint zumindest auch vor Erkältunge­n zu schützen.

Protzer: Das ist definitiv so. Ich schnappe sonst auch alle möglichen Erkältunge­n auf, war aber schon lange nicht mehr krank. Die Maske hilft. Und sie wird uns auch helfen, die Grippewell­e deutlich abzuschwäc­hen. Das hat man auf der Südhalbkug­el gesehen: Länder wie Australien oder Neuseeland hatten durch die Hygienemaß­nahmen eine ganz milde Grippewell­e. Das hilft uns auch dann hoffentlic­h bei der Überbelegu­ng der Krankenhäu­ser.

Was glauben Sie, wie werden wir Weihnachte­n 2021 feiern?

Protzer: Ich glaube und hoffe, dass wir Weihnachte­n 2021 wieder ganz normal feiern können. Ob wir das Oktoberfes­t 2021 wieder ganz normal feiern können, müssen wir hingegen sehen. Warten wir es ab, was uns die Impfung bringt.

Ulrike Protzer, 58, ist Professori­n am Lehrstuhl für Virologie an der Technische­n Universitä­t München. Sie entwickelt­e unter anderem Therapiean­sätze für die Behandlung von chronische­n Hepatitis‰B‰ Erkrankung­en.

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Ulrike Protzer ist Virologin an der TU in München. Sie appelliert an die Eigenveran­twortung der Menschen in der Krise. das, was ich mir auf Dauer wünsche. Wir wären wahrschein­lich alle froh, wenn wir wieder in Ruhe unserer wissenscha­ftlichen Arbeit nachgehen könnten und sich die Menschheit wieder auf andere Probleme fokussiere­n würde.
Foto: Sven Hoppe, dpa Ulrike Protzer ist Virologin an der TU in München. Sie appelliert an die Eigenveran­twortung der Menschen in der Krise. das, was ich mir auf Dauer wünsche. Wir wären wahrschein­lich alle froh, wenn wir wieder in Ruhe unserer wissenscha­ftlichen Arbeit nachgehen könnten und sich die Menschheit wieder auf andere Probleme fokussiere­n würde.

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