„Gott will, dass die Kirche menschlicher wird“
Bischof Bertram Meier hat in diesem Jahr ein Auf und Ab der Gefühle erlebt, die Corona-Krise überschattete alles. Ein Gespräch über den Wert der Gemeinschaft, Kruzifixe bei Corona-Demos und ein sehr besonderes Weihnachtsfest
Herr Bischof, wie war das erste Weihnachtsfest, an das Sie sich noch erinnern können?
Bischof Bertram Meier: Ich dürfte so drei Jahre alt gewesen sein, da habe ich mit großen Augen den Christbaum angeschaut, er war voller Kerzen. Es gibt noch Fotos davon. Damals habe ich einen großen SteiffTeddybär geschenkt bekommen. Der war größer als ich. Und den habe ich geknuddelt. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern.
Wie wurde bei Ihnen gefeiert?
Meier: Opa und Oma kamen zu uns, und es gab Gans. Weil das aber nichts für mich war, habe ich eine kleine gegrillte Taube essen dürfen. Das war schon etwas Besonderes. Bei uns wurde auch Hausmusik gemacht. Die Weihnachtstage brachten mich zum Staunen.
Und wie werden Sie in diesem Pandemie-Jahr mit Ihrer Familie Weihnachten feiern?
Meier: Meine Mutter ist Corona-infiziert gewesen. Aber sie hat die Erkrankung, soweit man das sagen kann, sehr gut überwunden.
Ihre Mutter ist 89 Jahre alt und lebt im Augsburger Afraheim.
Meier: Für die Senioren dort ist es natürlich nicht leicht, längere Zeit in Zimmerquarantäne sein zu müssen. Wissen Sie, was meine Mutter gesagt hat, als sie von ihrer Infektion hörte?
Was?
Meier: Sie ist ja eine Heimatvertriebene aus dem Sudetenland. Sie sagte: „Wer die Vertreibung aus der alten Heimat überstanden hat, kommt auch mit Corona klar.“Sie sagte mir aber auch, dass sie schon abgeschlossen hatte mit ihrem Leben. Jetzt ist sie wieder ganz lebensfroh. Sie wolle nun erst einmal auf Weihnachten hin leben. Meine Schwester möchte an Weihnachten aus Paris anreisen. Wir müssen sehen, ob und wie wir dann unsere Mutter besuchen können.
Werden Sie sich vor den Feiertagen in Selbstisolierung begeben, um Ihre Mutter besuchen zu können?
Meier: Ich weiß nicht, ob das so günstig ist, schließlich bin ich als Bischof gerade im Advent und an Weihnachten sehr gefordert. Meine Mutter hat Verständnis dafür. Schon nach meiner Priesterweihe sagte sie mir: „Bertram, du gehörst jetzt nicht mehr uns allein, sondern auch den Menschen, die dich brauchen.“Ihr ist wichtig, dass wir häufig telefonieren. Bei ihr ist oft belegt ...
Und wie geht es Ihnen? Die CoronaKrise ist für viele ja eine Belastung. Meier: Ich bin kein Mensch, der ängstlich ist, schon als Kind nicht. Mich kann so schnell nichts nieder drücken. Gleichzeitig nehme ich die der Menschen stark wahr, vor allem derjenigen, die das Thema Corona erst von sich schoben und sich dann selbst infizierten oder im engsten Kreis einen Infektions- oder gar Todesfall hatten. Ich versuche mich und andere, so gut es geht, zu schützen. Selbst bei Sitzungen spreche ich durch meine Maske. Sollte mich das Coronavirus einmal erwischen, hoffe ich, dass ich dann so denke wie meine Mutter. Nein, Corona zieht mich nicht runter.
Andere Menschen reagieren weniger gelassen, teils mit heftigem Protest. Da werden Corona-Demos als Gottesdienste deklariert, da werden am Martinstag „Lichterumzüge“veranstaltet, da werden Polizisten Kruzifixe entgegengehalten.
Meier:
Wie meinen Sie das?
Meier: Wenn wir in Weihnachten nicht nur ein Geschenke- und Familienfest sehen. Bitte, das ist recht und gut – mir tut es leid, dass Geschäfte kaum Umsatz haben, dass keine Weihnachtsmärkte veranstaltet werden. Aber es geht bei Weihnachten im Kern darum, dass es da jemanden gibt, der uns erahnen lässt, wie Gott ist: Jesus Christus. Und Gott will, dass die Welt und die Kirche menschlicher werden.
Die Kirche?
Meier: Ich denke da unter anderem an den Missbrauchsskandal, an Vertuschungen.
In den letzten Jahrzehnten gab es auch im Bistum Augsburg eine Vielzahl von Missbrauchsfällen. Verantwortlichkeiten und Verantwortliche bis in die jeweilige Bistumsleitung hinein wurden öffentlich bislang nicht genannt. Ziehen Sie in Erwägung, eine derartige Studie für das Bistum bei unabhängigen Juristen in Auftrag zu geben und zu veröffentlichen – ähnlich wie dies der Aachener Bischof Helmut Dieser getan hat? Meier: Ich schließe das nicht aus. Aber dazu habe ich noch keine konkreten Pläne. Meine Art, Probleme anzugehen, war immer, sie nicht zu umschiffen, sondern der Wahrheit in die Augen zu schauen. Wenn ich einer solchen Studie näher treten sollte, dann glaube ich, müssten wir allerdings im Vorfeld einer Forschungsgruppe oder Kanzlei den Auftrag ganz klar beschreiben. Ich glaube auch: Wir werden nicht in einem Slalom aus immer neuen Studien aus dem Missbrauchsskandal herauskommen. Und ich fürchte, wir werden auch irgendwann einmal feststellen, dass wir nicht alles im Detail mehr ausleuchten können. Wir dürfen die Vergangenheit nicht verschweigen, aber für die Zukunft müssen wir sicher noch stärker auf Präventionsmaßnahmen achten. Dazu zähle ich besonders die Auswahl und Ausbildung der Priester. Ein ganz konkreter nächster Schritt ist die Einrichtung eines Betroffenenbeirats. Hier bitte ich Interessierte, sich bei uns zu melden.
Zurück zu Weihnachten. Das Bistum Augsburg plant mit Freiluftgottesdiensten und einer Reihe kurzer Gottesdienste in den jeweiligen Kirchen vor Ort. Was aber, wenn es ein erneutes Gottesdienstverbot gibt?
Meier: Es kann Überraschungen geben, die uns schlucken lassen. Nach jetzigem Stand der Dinge gehe ich aber davon aus, dass Gottesdienste stattfinden können, wenn auch in kleineren Formaten. Politiker verÄngste schiedener Parteien haben mir in vielen Gesprächen gesagt: Die Kirche müsse gerade in dieser Situation den Menschen die Frohe Botschaft verkünden. Als Kirche werden wir uns dabei immer an die vorgegebenen Rahmenbedingungen halten.
Geplant ist auch, dass Sie mit dem evangelischen Augsburger Regionalbischof Axel Piper Weihnachten ökumenisch einläuten. Was haben Sie vor? Meier: Wir wollen an Heiligabend an die Ränder gehen, so wie es Papst Franziskus gesagt hat. Wir haben vor, am Helmut-Haller-Platz in Augsburg für Obdachlose und Drogensüchtige da zu sein. Später am Tag wollen wir das Augsburger Uniklinikum aufsuchen. Ob wir das so umsetzen können, ist noch offen. Wir arbeiten daran. Eines ist aber klar: Wir wollen an die gesellschaftlichen Ränder der Stadt gehen, das ist mir überaus wichtig. Ohnehin will ich wieder verstärkt unter Menschen sein und nicht nur im Dom Pontifikalämter halten.
Sie wurden in diesem Jahr Bischof. Wie war 2020 für Sie?
Meier: Wie ein Kneipp’sches Wechselbad.
Ein Auf und Ab der Gefühle? Meier: Genau.
So war das Jahr auch kirchenpolitisch: Es war ein Jahr großer Erwartungen und tiefer Enttäuschungen. Vom Reformprozess „Synodaler Weg“zwischen Bischöfen und katholischen Laien weiß zum Beispiel niemand, ob er zu echten Reformen führen kann oder ergebnislos bleiben wird ... Meier: Ich bin niemand, der deshalb sagen würde: Ich steige jetzt aus dem Synodalen Weg aus. Für mich ist er ein spirituelles Experiment. Ich mache da mit und bringe mich ein. Es geht ums Eingemachte – und es gibt sehr heterogene Vorstellungen. Zum Beispiel über den Zölibat, die priesterliche Ehelosigkeit.
Eines Ihrer erklärten Ziele ist es, zu vermitteln. Zum Beispiel zwischen dem Vatikan und der katholischen Kirche in Deutschland. Waren Sie diesbezüglich in diesem Jahr aktiv? Meier: Das habe ich so gesagt, das stimmt. Aber es gibt dieses Amt nicht offiziell und es hat auch niemand an mich herangetragen. Ich wollte damit sagen, dass ich als Bischof ein Brückenbauer sein möchte. Nicht in dem Sinne, dass ich mit irgendwelchen Papieren im Gepäck zwischen Deutschland und Rom pendle oder fortlaufend Briefe an vatikanische Behörden schicke. Sondern in dem Sinne, dass ich in vielen persönlichen Gesprächen Positionen des Vatikans und umgekehrt die der katholischen Kirche in Deutschland verständlich machen will. Ich war 17
Jahre in Rom, und mit dieser Erfahrung möchte ich mich in Diskussionen einbringen.
Wie im Falle eines Vatikan-Papiers aus dem Sommer, das Mitbrüder von Ihnen scharf kritisierten? Darin werden Leitungsteams für Gemeinden aus Pfarrern und Laien ausgeschlossen – auch und gerade „im Falle des Priestermangels“. Dies gehe völlig an der Wirklichkeit vorbei, hieß es.
Meier: Ich verteidige diese Instruktion nicht mit Halleluja-Freudenrufen. Aber ich dramatisiere nicht. Meine Devise ist: Ich sage hier „gemach, gemach!“Was auch für den Synodalen Weg gilt, der in Rom von manch einem als eine Art potenzielle zweite Reformation nach Luther angesehen wird, als Gefahr für die Einheit der Kirche. So schlimm ist es wahrlich nicht. Es ist durchaus legitim, sich um eine geistliche Erneuerung der Kirche zu bemühen – und zwar als Antwort auf den Missbrauchsskandal in unseren Reihen.
Nach tiefgreifenden Reformen klingt das nun nicht. Wie blickt denn Papst Franziskus auf die katholische Kirche in Deutschland? Geht sie ihm mit ihrem stellenweise recht deutlich geäußerten Reformwillen zu weit?
Meier: Ich konnte mit ihm im September in einem brüderlichen Austausch ausführlich reden. Er hört sehr genau zu. Und wenn er dann etwas sagt, ist es weniger eine detaillierte Theologie oder eine unumstößliche Entscheidung. Er wünscht sich eine synodale Kirche, eine Kirche also, die sich im Miteinander auf den Weg macht. Unter Synodalität versteht er Anhören, Zuhören – nicht Abstimmungen wie in einem Kirchenparlament, in dem auch eine knappe Mehrheit entscheidet. In diesem Sinne unterstützt er uns in jedem Fall, wenn wir als Kirche in Deutschland die Zukunft angehen wollen. Aber er will nicht die Lehre ändern. Er hat kein Interesse daran, per Doktrin große Veränderungen herbeizuführen. Er will, dass der Synodale Weg ein geistlicher Weg ist, das fehlt ihm etwas.
Für den Papst ist der Weg das Ziel? Meier: Er spricht gerne von der großen Übereinstimmung, vom großen Konsens. Das heißt: Wenn wir die katholische Kirche erneuern wollen, müssen wir möglichst viele mitnehmen, sonst bilden sich wie in der Politik Fraktionen und Koalitionen.
Auf Weihnachten folgt das neue Jahr. Welchen Neujahrswunsch haben Sie? Meier: Für mich ganz persönlich?
Ja.
Meier: Das ist ein Dreiklang: Dankbar bleiben, ehrlich sein, Humor und Freude nicht vergessen.
Interview: Daniel Wirsching