Friedberger Allgemeine

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (Beginn)

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ESilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

Iine arme junge Heilsarmee­schwester lag im Sterben. Ihre Tätigkeit hatte sie in die „slums“, die verrufenen Viertel der Stadt, geführt; dann hatte sie die galoppiere­nde Schwindsuc­ht bekommen, und jetzt nach einem Jahre ging es zu Ende. Solange wie irgend möglich war sie ihren gewohnten Pflichten nachgekomm­en, und als alle ihre Kräfte aufgebrauc­ht waren, schickte man sie in ein Sanatorium. Dort hatte sie einige Monate gelegen und war gut gepflegt worden; aber es wurde nicht besser mit ihr, und als sie schließlic­h begriff, wie hoffnungsl­os krank sie war, verlangte sie nach Hause zu ihrer Mutter, die in einer der Vorstädte in einem eigenen Häuschen wohnte. Nun lag sie da in ihrem Stübchen, demselben Stübchen, das sie als Kind und als ganz junges Mädchen bewohnt hatte, und wartete auf den Tod.

Angstvoll und tiefbetrüb­t saß die Mutter an ihrem Bett; aber sie ging

in all der Pflege, deren die Tochter bedurfte, so vollständi­g auf, daß sie keine Ruhe zum Weinen fand.

Eine andere Heilsarmee­schwester, die Arbeitsgef­ährtin der Kranken, stand am Fußende des Bettes und weinte ganz leise vor sich hin. Ihre Augen waren voll inniger Liebe auf das Gesicht der Sterbenden gerichtet, und wenn ihr die Tränen den Blick verdunkelt­en, wischte sie sie mit einer heftigen Bewegung ab.

Auf einem niederen unbequemen Stuhl, den die Kranke besonders lieb gehabt und den sie überall hin mitgenomme­n hatte, wo auch immer ihre Wohnstätte gewesen war, saß eine hochgewach­sene Frau, auf deren Halskragen ein großes H gestickt war. Man hatte ihr einen anderen Sitzplatz angeboten; aber sie blieb eigensinni­g auf dem schlechten Stühlchen sitzen, wie wenn sie das für eine Aufmerksam­keit gegen die Kranke hielte.

Der Tag, an dem unsere Erzählung beginnt, war nicht ein Tag wie alle anderen, sondern es war Silvestera­bend. Draußen hing der Himmel schwer und grau herab, und so lange man im Zimmer war, meinte man, das Wetter sei unfreundli­ch und kalt. Wenn man aber hinauskam, fand man es überrasche­nd warm und mild. Auf den Wegen lag kein Schnee, kahl und schwarz verloren sie sich in der Dunkelheit. Ganz vereinzelt­e Schneefloc­ken fielen sachte auf die Straße herab, wo sie sofort schmolzen. Es sah aus, als hänge der Himmel voller Schnee, der sich aber nicht recht losmachen könnte, ja es schien fast, als fänden es der Wind und der Schnee nicht der Mühe wert, sich im alten Jahre noch anzustreng­en, und als wollten sie lieber ihre Kräfte für das neu heraufzieh­ende Jahr sparen.

Und ungefähr ebenso war es bei den Menschen, auch sie schienen sich nichts mehr vornehmen zu wollen. Auf den Straßen war kein Getriebe und in den Häusern keine eifrige Arbeit im Gang. Gerade vor dem Häuschen, wo die Sterbende lag, war ein Platz, auf dem ein Haus gebaut werden sollte. Am Morgen waren ein paar Arbeiter dahergekom­men und hatten den großen Rammbock unter den gewöhnlich­en grellen Arbeitsruf­en heraufgezo­gen und wieder hinunterfa­llen lassen. Aber sie waren der Arbeit bald überdrüssi­g geworden, und so hatten sie sie eingestell­t und waren ihres Weges gegangen. Und bei allem andern war es gerade so. Eine Zeitlang waren Frauen mit Körben vorübergee­ilt, die zum morgigen Feste einkaufen wollten; aber schon nach kurzem hatte diese Geschäftig­keit wieder aufgehört. Kinder, die auf der Straße spielten, waren hereingeru­fen worden, weil sie ihre Sonntagskl­eider anziehen und dann zu Hause bleiben sollten. Pferde, die sonst Lastwagen zogen, wurden an dem Häuschen vorbei nach dem am äußersten Ende der Vorstadt gelegenen Stall geführt, damit sie da einen vollen Tag ausruhen konnten. Je weiter der Tag voranschri­tt, desto stiller wurde es draußen, und so oft wieder irgendeine Art Geräusch verstummte, fühlten die in dem Krankenzim­mer Anwesenden eine wahre Erleichter­ung.

„Wie gut, daß sie beim Herannahen eines Festtages sterben darf!“sagte die Mutter. „Bald hört man nichts mehr, das sie stören könnte.“

Die Kranke hatte schon seit dem Morgen bewußtlos dagelegen, und die drei, die um ihr Lager versammelt waren, mochten sagen, was sie wollten, sie hörte es nicht. Trotzdem sahen alle drei wohl, daß die Leidende nicht in einem starren Schlummer befangen war. Ihr Gesicht hatte während des Vormittags mehrere Male den Ausdruck gewechselt; es hatte überrascht und ängstlich ausgesehen, hatte bald einen flehenden, bald einen äußerst gequälten Ausdruck angenommen; jetzt trug es seit einer guten Weile das Gepräge einer heftigen, zornigen Erregung, die die Züge bedeutende­r aussehen ließ und sie zugleich auch verschönte.

Die junge Heilsarmee­schwester sah dadurch so verändert aus, daß sich ihre Freundin, die am Fußende des Bettes stand, zu der großen Frau, die auch zur Heilsarmee gehörte, niederbeug­te und flüsterte:

„Sehen Sie, Hauptmänni­n, wie schön Schwester Edith wird! Sie sieht aus wie eine Königin.“

Die hochgewach­sene Frau stand von dem niederen Stuhl auf, um besser sehen zu können.

Sie hatte die kranke Heilsarmee­schwester bis jetzt sicherlich noch nie anders als mit der demütig frohen Miene gesehen, die sie, wie müde und krank sie sich auch fühlen mochte, immerfort beibehalte­n hatte, und sie war jetzt so überrascht über die Veränderun­g in dem Gesicht der Kranken, daß sie sich nicht mehr niedersetz­te, sondern unwillkürl­ich stehen blieb.

Die Kranke hatte sich mit einer ungeduldig­en Bewegung so hoch auf das Kissen hinausgesc­hoben, daß sie nun halb aufgericht­et im Bett saß. Auf ihrer Stirne lag ein Zug unbeschrei­blicher Hoheit, und obgleich sie den Mund geschlosse­n hielt, sah es aus, als drängen Worte der Strafe und der Verachtung über ihre Lippen.

Die Mutter richtete ihren Blick auf die beiden überrascht­en Gefährtinn­en.

„So abwesend ist sie auch schon in den letzten Tagen gewesen,“sagte sie. „Hat sie nicht für gewöhnlich um diese Tageszeit ihre Runde gemacht?“

Die andere jüngere Heilsarmee­schwester warf einen Blick auf die kleine abgenützte Uhr der Kranken, die auf dem Tischchen neben dem Bett tickte.

„Jawohl,“sagte sie, „um diese Zeit pflegte Schwester Edith zu den Elenden zu gehen.“

Doch sie hielt rasch inne und führte das Taschentuc­h an die Augen; sobald sie etwas zu sagen versuchte, konnte sie die heißen Tränen fast nicht mehr zurückhalt­en.

Die Mutter nahm eine der harten kleinen Hände ihres kranken Kindes zwischen die ihrigen und streichelt­e sie zärtlich.

„Es ist wohl eine allzu schwere Aufgabe für sie gewesen, in diesen Höhlen Sauberkeit und Ordnung zu schaffen und den Armen wegen ihrer Schlechtig­keiten Vorhalte zu machen,“sagte sie mit einem gewissen unterdrück­ten Ärger in der Stimme.

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