Friedberger Allgemeine

Aufruhr im Urlaubspar­adies

Wenn Flüchtling­e in Vier-Sterne-Hotels wohnen: Die Kanaren sind ein neuer Weg nach Europa. Einheimisc­he helfen – und rebelliere­n

- VON PHILIPP SCHULTE

Onalia Bueno liest aus einem Protokoll vor: Sonntag 21.19 Uhr, 78 Menschen, Montagmorg­en 20 Flüchtling­e. „Jeden Tag kommen Migranten an“, sagt Bueno. „Jeden Tag.“Onalia Bueno ist Bürgermeis­terin der Gemeinde Mogán auf Gran Canaria, Kanaren, Spanien, Urlaubslan­d Nummer eins der Deutschen. Statt Urlaubern in Fliegern und mit Rollkoffer­n kommen auf der Inselgrupp­e dieses Jahr Flüchtling­e aus Afrika in nussschale­nartigen Booten an. Sie nehmen einen neuen Weg nach Europa. Über den Atlantik statt übers Mittelmeer.

Dort, wo Palmen Sandstränd­e von Promenaden trennen, von wo aus Jachten auf den Atlantik schippern, herrscht Aufruhr und Chaos. 2000 Flüchtling­e lungerten auf Kaimauern, ohne Wasser, Essen, Duschen. 19 000 Migranten kamen dem spanischen Innenminis­terium zufolge seit Jahresbegi­nn auf den Kanarische­n Inseln an. Im November sind es nach Angaben einer Hilfsorgan­isation 280 je Tag – das ist deutlich mehr als in den vorherigen Monaten. Am ersten Dezemberwo­chenende waren es allein auf Gran Canaria 200. Die Behörden reagieren.

Auf Gran Canaria kommen die Flüchtling­e mittlerwei­le in ein Zentrallag­er in der Inselhaupt­stadt Las Palmas. Sie werden versorgt, anders als noch vor ein paar Wochen. 5500 Flüchtling­e bringt die spanische Regierung kanarenwei­t in leer stehenden Hotels unter. Das gefällt nicht jedem. Hoteliers und Bürger fürchten, dass Touristen ausbleiben. Die Kanaren gefährdete­n ihr Image als Urlaubszie­l, heißt es.

Wer es als Migrant auf eine der kanarische­n Vulkaninse­ln schafft, kann sich glücklich schätzen. Auf dem Wasserweg nach Gran Canaria, Teneriffa oder Lanzarote spielen sich dramatisch­e Szenen ab. Solche, wie die europäisch­e Bevölkerun­g sie von griechisch­en und italienisc­hen Inseln kennt. Hilfsorgan­isationen wie Open Arms sind im Dauereinsa­tz. Die Flüchtling­e starten an den Küsten der Westsahara oder Marokkos mit Fischerboo­ten. Auf dem gut 100 Kilometer langen Weg kentern sie bei rauer See regelmäßig. Die spanische Zeitung El País widmet vor ein paar Wochen ihr Titelfoto einer auf einem Rettungssc­hiff liegenden Mutter mit roter Rettungswe­ste. Sie schreit: „Ich habe mein Baby verloren.“Joseph wird nur sechs Monate alt.

Bürgermeis­terin Onalia Bueno ist 43 Jahre alt und selbst Mutter. Am Samstag wird ihre Tochter Alicia drei Jahre alt. Während Bueno telefonier­t, spielt das Kind mit einem Gegenstand und macht Krach. Es ist einer der wenigen Tage, an dem die Mama daheim ist. Auch dort blickt sie immer in einen Chat. Sie will wissen, wann Boote an der Küste ihrer Gemeinde ankommen. Bueno sagt: „Das Meer ist gerade ruhig.“

Im Rathaus ist Bueno seit August nur noch selten. „Ich habe mein Büro in den Hafen verlegt.“So sehr beschäftig­t sie die Flüchtling­skrise. „Wir wollen kein zweites Lesbos oder Lampedusa werden.“In Mogán haben sie schon vier Flüchtling­e beerdigt. „Wir wollen auch kein Gefängnis sein“, sagt Bueno. 90 Prozent der Migranten wollten aufs spanische Festland, nach Deutschlan­d, Großbritan­nien.

Onalia Bueno ist sauer auf die Regierung in Madrid. „Sie ist schuld, dass es hier so zuging. Die Polizei hatte keine Mittel, um zu helfen.“Als die Migranten ankamen, schliefen sie am Strand oder auf dem Boden. Sie konnten sich nicht waschen

Flüchtling­sroute auf die Kanaren und hatten keine Toilette. „Ein Desaster“, sagt Bueno. „Wir wollen, dass Rechte geachtet und die Menschen versorgt werden.“

Zu der Gesundheit­s- und Wirtschaft­skrise kommt nun die Flüchtling­skrise hinzu. Mittlerwei­le hat Bueno einen ersten Kampf gewonnen, wie sie sagt. Mütter und Babys sind gut untergebra­cht, mithilfe des Roten Kreuzes. Das Flüchtling­scamp auf einem Militärgel­ände in Las Palmas sei mit 800 Menschen zwar voll, könne aber erweitert werden. Ohnehin sollen drei neue Camps mit Platz für 7000 Flüchtling­e entstehen: auf Teneriffa, Gran Canaria, Fuertevent­ura.

Der Vertrag der Regierung mit den Hotels endet Ende des Jahres, zumindest in Buenos 2500-Einwohner-Gemeinde. Die Bürgermeis­terin weiß, dass es keine Dauerlösun­g ist, Flüchtling­e in Hotels unterzubri­ngen. Sie macht sich Sorgen, dass deswegen Urlauber ausbleiben. Die Kanaren werden vom RobertKoch-Institut nicht mehr als Risikogebi­et eingestuft und sind besonders im Winter wegen Wasser- und Lufttemper­aturen um 20 Grad beliebt. Die Inseln bereiten sich auf das Weihnachts­geschäft vor. Es liege nun an Madrid, die Flüchtling­e entweder aufs Festland zu bringen oder in ihre Herkunftsl­änder zurückzusc­hicken, sagt Bueno. Sie spürt, dass Einheimisc­he nervöser werden.

Manche Wohnhäuser sind nur 300 Meter vom Hafen entfernt. Einer, der das Meer von seinem Haus aus sieht, ist Santiago Ceballos. Er lebt schon immer auf Gran Canaria, ist 75 Jahre alt und war mal Unternehme­nsberater. Er sagt: „Das Migranten-Problem darf den Tourismus nicht beeinfluss­en.“Flüchtling­e und Touristen am selben Ort unterzubri­ngen, sei absurd. „Die Flüchtling­e kommen in Hotels und dürfen sich frei bewegen.“Der Tourismus sei die Quelle des Wohlstands auf den Kanaren, sagt Ceballos. Auch ein Hotelmanag­er sagte einer Zeitung, dass Touristen sehr sensibel seien. Viele Menschen sind auf den Kanaren vom Tourismus abhängig.

Um Madrid wegen schlechter Organisati­on zu kritisiere­n, gingen an einem Novemberta­g nach Angaben von El País in der Gemeinde Mogán 1100 Demonstran­ten auf die Straße. Onalia Buenos Gemeinde unterstütz­te das. Doch es gab Protestler, die Flüchtling­e als „Invasoren“und „Parasiten“betitelten. Bueno griff zum Megafon: „Alles, was nicht mit dem Kampf für Menschenre­chte zu tun hat, hat hier keinen Platz.“

Das Meer ist ruhig, das begünstigt die Überfahrt

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Foto: Javier Bauluz, dpa Migranten aus Marokko kommen mit einem Holzboot an der Küste Gran Canarias an und lassen Temperatur messen. Statt Urlau‰ bern mit Rollkoffer­n kommen dieses Jahr 19000 Flüchtling­e, was die Kanarische­n Inseln überforder­t.

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