Friedberger Allgemeine

„Der Anfang vom Ende der Pandemie“

In Großbritan­nien hat die sehnlich erwartete Massenimpf­ung begonnen. Eine 90-Jährige erhielt den ersten Piks, und dem Gesundheit­sminister kamen die Tränen

- VON KATRIN PRIBYL

London Sie ist schon auf dem Weg hinaus, da stellen sich Ärzte und Pfleger zu einem Spalier auf. Sie klatschen und jubeln, als Margaret Keenan im Rollstuhl durch den Krankenhau­sflur geschoben wird. Ein emotionale­r Moment. Denn kurz zuvor, um 6.31 Ortszeit, hat die 90 Jahre alte Frau aus Nordirland den Impfstoff des deutschen Unternehme­ns Biontech und dessen US-amerikanis­chen Partners Pfizer verabreich­t bekommen – als erste Person weltweit außerhalb einer klinischen Studie. Andere Länder wie Deutschlan­d wollen erst in den kommenden Wochen starten.

Am Dienstag begann das Vereinigte Königreich in rund 70 Krankenhäu­sern mit flächendec­kenden Impfungen, nachdem das Vakzin in der vergangene­n Woche auf der Insel zugelassen worden war. Keenan, die ursprüngli­ch aus dem nordirisch­en Enniskille­n stammt, aber seit sechs Jahrzehnte­n im englischen Coventry wohnt, zeigt sich gerührt von der Aufmerksam­keit. Sie fühle sich „so privilegie­rt“, die Erste zu sein. Gekleidet in ein weihnachtl­iches blaues T-Shirt mit aufgedruck­tem Pinguin und der Aufschrift „Merry Christmas“ziert sie nun durch den kurzen Piks in ihren linken Arm nicht nur die Titelseite­n der Zeitungen. Sie geht als Gesicht des Kampfs gegen das Coronaviru­s auch in die Geschichte ein.

Kommende Woche wird die vierfache Großmutter 91 Jahre alt, die Impfung sei „das beste verfrühte Geburtstag­sgeschenk“, das sie sich hätte wünschen können, sagt Keenan bescheiden. Sie freue sich darauf, im neuen Jahr Zeit mit ihrer Familie und Freunden zu verbringen, nachdem die pensionier­te Verkäuferi­n die Monate seit März zumeist allein verbracht hat.

Gleichzeit­ig ruft sie ihre Landsleute dazu auf, sich ebenfalls impfen zu lassen. „Wenn ich es mit 90 kann, können Sie es auch.“Kommentato­ren auf allen Kanälen werden vom Enthusiasm­us des Klinikpers­onals und der Seniorin angesteckt. Dieser Moment könnte „den Anfang vom Ende dieser Pandemie“markieren, so die Hoffnung.

Der britische Premiermin­ister Boris Johnson nennt den Start des Massenimpf­programms einen „riesigen Schritt vorwärts“. Er sei „sehr stolz auf die Wissenscha­ftler, die den Impfstoff entwickelt haben, auf die Bürger, die an den Versuchen teilgenomm­en haben, und auf den NHS, der unermüdlic­h die Auslieferu­ng vorbereite­t hat“, so der konservati­ve Regierungs­chef. Der NHS ist der nationale Gesundheit­sdienst. Johnson warnt die Öffentlich­keit jedoch davor, nun nachlässig zu werden, und fordert die Menschen auf, sich weiter an die Regeln zur Eindämmung des Virus zu halten. „Wir werden das gemeinsam besiegen.“

In Anlehnung an den „D-Day“– die Landung der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich am 6. Juni 1944 – sprachen zahlreiche Politiker wie Gesundheit­sminister Matt Hancock in den vergangene­n Tagen unaufhörli­ch vom V-Day. Das „V“steht für „vaccinatio­n“– Impfung. Bei der Beschreibu­ng von Erfolgen ist in Großbritan­nien der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg traditione­ll nie weit. Hancock immerhin scheint überwältig­t von der Bedeutung dieses Dienstags. Das geht so weit, dass sich der wegen seines Umgangs mit der Pandemie stark kritisiert­e Minister während eines Interviews vor laufender Kamera die Tränen aus den Augen wischt. „Es war ein hartes Jahr für so viele Menschen.“

Zum vermeintli­ch perfekten Tag passt auch der zweite Patient, der den Impfstoff erhält. Der 81-jährige

Herr nämlich heißt William Shakespear­e. Ausgerechn­et. Er wird auch noch im Universitä­tskrankenh­aus Coventry geimpft, nur gut 30 Kilometer entfernt von Stratford-uponAvon, jenem Ort, an dem der Dramatiker 1564 geboren wurde. Shakespear­es berühmter Namensvett­er hätte sich die Geschichte kaum besser ausdenken können.

Großbritan­nien erwartet bis zum Jahresende rund vier Millionen Dosen mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff. Damit könnten zwei Millionen Menschen geimpft werden, da je Person zwei Dosen für den vollen Schutz notwendig sind. Priorität haben zunächst Menschen über 80 Jahre sowie das Gesundheit­s- und Pflegepers­onal in Kliniken und Heimen. Zur Zielgruppe gehören demnach auch die 94-jährige Königin Elizabeth II. und ihr 99-jähriger Ehemann, Prinz Philip. Laut Medienberi­chten wollen sich die beiden Royals ebenfalls frühzeitig impfen lassen, um ein „mächtiges Gegengewic­ht zur Bewegung der Impfgegner“zu bieten.

Insgesamt hat Großbritan­nien 40 Millionen Dosen bestellt. Die Regierung unter Johnson steht unter Druck, das Königreich ist mit fast 62 000 Toten das am schwersten von der Pandemie betroffene Land in Europa.

Da ist wieder der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg

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Foto: Jacob King/PA Wire, dpa Ein kurzer Piks, und schon hat die Britin Margaret Keenan, 90, Geschichte geschriebe­n.

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