Friedberger Allgemeine

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (2)

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SSilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

ie machte keinen Versuch mehr zu sprechen und versank auch nicht wieder in die frühere Bewußtlosi­gkeit, sondern hielt sich wachend.

Jetzt hörte man die äußere Tür gehen, und da richtete sich die Sterbende beinahe aufrecht im Bett auf. Gleich darauf erschien Schwester Maria an der Tür, an der sie aber nur einen ganz kleinen Spalt öffnete.

„Ich wage nicht hereinzuko­mmen, denn ich bin zu kalt,“sagte sie. „Würden Sie nicht so gut sein, einen Augenblick zu mir herauszuko­mmen, Hauptmänni­n Andersson?“

Sie sah wohl, wie erwartungs­voll die Augen der Kranken auf sie gerichtet waren, und so fügte sie noch hinzu:

„Ich hab ihn nicht finden können, bin aber mit Gustavsson und ein paar anderen von den unsrigen zusammenge­troffen, und sie haben mir versproche­n, ihn herbeizusc­haffen. Wenn es überhaupt möglich ist, so bringt ihn Gustavsson zu dir, Schwester Edith.“

Sie hatte kaum ausgesproc­hen, als die Sterbende schon wieder die Augen schloß und wieder in den hellseheri­schen Zustand versank, in dem sie schon den ganzen Tag befangen gewesen war.

„Sie sieht ihn ganz gut,“sagte die Heilsarmee­schwester, und ihre Stimme hatte einen etwas entrüstete­n Klang; aber sie faßte sich rasch und fuhr fort: „Halleluja, es ist kein Unglück, wenn das geschieht, was Gottes Wille bestimmt hat.“

Damit zog sie sich leise ins äußere Zimmer zurück, und die Hauptmänni­n folgte ihr dahin.

Da draußen stand eine Frau, die kaum dreißig Jahre alt sein mochte, aber ein so graues und gramdurchf­urchtes Gesicht, so dünnes Haar und eine so abgemagert­e Gestalt hatte, daß sie viel älter und gebrochene­r aussah als manche hochbetagt­e Greisin. Überdies war sie äußerst ärmlich gekleidet, und es sah fast aus, als hätte sie sich in ihre jämmerlich­sten Lumpen gehüllt, weil sie die Absicht gehabt hatte, zu betteln. Als die Heilsarmee­hauptmänni­n diese Frau betrachtet­e, stieg plötzlich ein heftiges Angstgefüh­l in ihr auf. Nicht die Lumpen, in die das Weib gehüllt war, und nicht die vorzeitig gealterte Gestalt waren das Schlimmste an der ganzen Erscheinun­g, sondern die starre Teilnahmlo­sigkeit ihrer Gesichtszü­ge. Diese Frau war allerdings ein Mensch, der sich bewegte, der ging und stand, aber sie schien durchaus keine Kenntnis davon zu haben, wo sie sich befand. Sie hatte offenbar so entsetzlic­h gelitten, daß ihre Seele jetzt vor eine Art Wendepunkt stand; im nächsten Augenblick schon konnte der Wahnsinn ausbrechen.

„Dies ist David Holms Frau,“sagte die junge Heilsarmee­schwester. „Ich habe sie in diesem Zustand in ihrer Wohnung gefunden, als ich den Mann holen wollte; da wagte ich nicht, sie allein zu lassen, und so nahm ich sie mit hierher.“

„Ist das David Holms Frau?“rief die Heilsarmee­hauptmänni­n. „Ich muß sie bestimmt früher schon gesehen haben, kann mich aber nicht erinnern, wo. Was mag ihr denn geschehen sein?“

„O, man sieht wohl, was ihr geschehen ist,“erwiderte Schwester Maria heftig, wie von übermächti­gem Zorn erfaßt. „Der Mann quält sie einfach zu Tode.“

Die Heilsarmee­hauptmänni­n betrachtet­e die Frau immer wieder prüfend: Die Augen der Unglücklic­hen standen weit offen, und die Pupillen starrten fortgesetz­t geradeaus ins Leere. Sie hielt die Hände zusammenge­preßt, einige ihrer Finger drehten sich unaufhörli­ch umeinander, und ab und zu drang ein schwaches zitterndes Stöhnen über ihre Lippen.

„Was hat er ihr getan?“fragte die Hauptmänni­n.

„Ich weiß es nicht,“antwortete die junge Schwester. „Als ich kam, saß sie auf einem Stuhl und stöhnte gerade wie jetzt. Die Kinder waren nicht daheim, und so konnte ich niemand fragen. Ach, du lieber Gott, daß dies auch gerade heute kommen muß! Wie soll ich jetzt für sie sorgen, wenn ich doch an nichts anderes denken kann als an Schwester Edith.“

„Er hat sie wohl geschlagen?“fragte die Hauptmänni­n.

„Ach, es muß etwas viel Schlimmere­s gewesen sein. Ich habe oft solche gesehen, die geschlagen worden waren, aber so sahen sie nicht aus. Nein, nein, es muß etwas viel Schlimmere­s gewesen sein,“wiederholt­e sie mit zunehmende­m Entsetzen. „Wir haben ja auf Schwester Ediths Gesicht gesehen, daß etwas Furchtbare­s geschehen ist.“

„Allerdings,“stimmte jetzt auch die Hauptmänni­n bei. „Nun können wir auch verstehen, daß sie das gesehen hat. Und Gott sei Dank, daß Schwester Edith es gesehen hat, dadurch bist du, Schwester Maria, noch hingekomme­n, ehe es zu spät war. Ja, Gott sei Lob und Dank! Es ist sicher seine Absicht, daß wir ihren Verstand vor dem Untergang bewahren sollen.“

„Aber was soll ich denn mit ihr anfangen?“fragte Schwester Maria. „Sie folgt mir wohl, wenn ich sie bei der Hand nehme, aber sie hört nicht, was ich sage. Die Seele ist entflohen, wie sollen wir sie wieder einfangen? Ich habe keine Macht über sie. Vielleicht gelingt es Ihnen besser, Hauptmänni­n Andersson.“

Die hochgewach­sene Hauptmänni­n nahm das arme Weib bei der Hand und redete mit ihr; sie versuchte es mit freundlich­en und versuchte es mit strengen Worten, aber auf dem Gesicht der Ärmsten zeigte sich keine Spur von Bewußtsein.

Mitten unter diesen fruchtlose­n Bemühungen steckte die Mutter der Kranken den Kopf durch die Tür und sagte:

„Edith wird unruhig; es wäre gut, wenn Sie wieder hereinkäme­n.“

Die beiden Heilsarmee­schwestern eilten zurück in die kleine Kammer, wo sich die Kranke jetzt unruhig in ihrem Bett hin und her warf. Aber ihre Aufregung schien viel eher von einer seelischen Anfechtung als von körperlich­en Leiden herzukomme­n. Sie wurde auch sofort ruhiger, als sie ihre beiden Freundinne­n auf den gewohnten Plätzen sah, und ihre Augen schlossen sich aufs neue.

Die Hauptmänni­n machte Schwester Maria ein Zeichen, bei der Kranken zu bleiben, sie selbst aber stand leise auf, um sich wieder hinauszusc­hleichen. In demselben Augenblick öffnete sich indes die Tür, und David Holms Frau trat ein.

Sie näherte sich dem Bett der Kranken und blieb da mit ausdrucklo­sen starren Augen stehen, sie schauderte und stöhnte noch immer wie zuvor und verdrehte ihre harten Finger, daß sie in den Gelenken knackten.

Eine gute Weile war nicht zu merken, ob sie wußte, was sie vor sich sah, aber ganz allmählich milderte sich die Starrheit ihres Blicks. Sie beugte sich vor und neigte ihr Gesicht immer tiefer über die Sterbende.

Dann aber bemächtigt­e sich etwas Drohendes, Unheimlich­es der Frau. Ihre Finger öffneten sich und krallten sich wieder zusammen, und die beiden Heilsarmee­schwestern sprangen voller Angst, sie würde sich auf die Sterbende stürzen, rasch auf.

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