Friedberger Allgemeine

Die abgeriegel­te Insel

Nach der Entdeckung einer Mutation des Covid-Virus kappen viele Staaten ihre Verbindung­en zu Großbritan­nien

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Schlange der Lkw scheint nicht zu enden. Sie zieht sich kilometerw­eit und entlang der Klippen von Dover durch die englische Landschaft bis weit ins Landesinne­re der Grafschaft Kent hinein. Lastwagen parken auf dem Seitenstre­ifen wie auch auf der Autobahn. Es herrscht das absolute Chaos im Königreich, das seit der Nacht auf Montag als Folge der Covid-19-Variante mit dem sperrigen Namen VUI2020/12/01 vom Festland abgeschnit­ten ist.

Mit Blick auf die mutierte Form des Coronaviru­s hatte neben zahlreiche­n Ländern wie Deutschlan­d, Österreich und Belgien auch Frankreich als Vorsichtsm­aßnahme die Grenzen für Fähren, Züge und Flugzeuge dichtgemac­ht – der Hafen Dover und der Eurotunnel stellten daraufhin den Betrieb ein. Es war das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass die wichtigste Verbindung der Insel mit dem europäisch­en Kontinent – sie macht 20 Prozent des Warenverke­hrs aus – gekappt wurde.

Die Situation ist äußerst angespannt. Die britische Supermarkt­Kette Sainsbury’s warnte vor Lieferengp­ässen, sollte der Frachtverk­ehr weiterhin unterbroch­en sein. Etliche Spediteure auf dem Kontinent stoppten ihre Fahrer auf dem Weg nach Großbritan­nien aus Sorge, am Ende nicht mehr zurückkehr­en zu können. „Wenn sich nichts ändert, werden in den kommenden Tagen Kopfsalat, einige Blattgemüs­e, Blumenkohl, Brokkoli und Zitrusfrüc­hte in den Regalen fehlen“, hieß es von Sainsbury’s.

Verkehrsmi­nister Grant Shapps mühte sich in Interviews sichtlich auf allen Nachrichte­nkanälen, die Bürger zu beruhigen, von Panikkäufe­n abzuhalten. Premiermin­ister Boris Johnson berief ein Krisentref­fen der Regierung ein, um zu klären, wie der Warenfluss gewährleis­tet werden kann. Das Pfund stürzte derweil ab.

Auch am Flughafen Heathrow herrschten tumultarti­ge Szenen, nachdem immer mehr Staaten einen coronabedi­ngten Einreisest­opp für Reisende aus Großbritan­nien verhängten und tausende Passagiere in letzter Minute versuchten, das Land zu verlassen. Selbst die Republik Irland machte seine Grenzen dicht. Die innerbriti­sche Grenze zwischen England und Schottland ist ebenfalls geschlosse­n. „Der Virus ist außer Kontrolle, dies ist jetzt ein echter Notfall“, sagte der Opposition­sführer von Labour, Keir Starmer. Für Verwunderu­ng sorgte bei Beobachter­n die Aussage von Shapps, dass die Maßnahmen der Franzosen, den Ärmelkanal zu blockieren, die britische Regierung „ziemlich überrasche­nd“getroffen habe. Gab es keine Absprache im Vorfeld mit den europäisch­en Partnern?

Einige Wissenscha­ftler äußerten zudem Skepsis über die Aussage, dass die Mutation, die bereits im September in der Grafschaft Kent entdeckt wurde, bis zu 70 Prozent ansteckend­er sein soll. Damit begründete Johnson am Samstag seine plötzliche Kehrtwende bezüglich der Lockerunge­n zu Weihnachte­n.

Carl Heneghan, Professor für evidenzbas­ierte Medizin an der Universitä­t Oxford, forderte in Medien Beweise für die höhere Ansteckung. „Ich mache diesen Job seit 25 Jahren und ich kann sagen, dass man in so kurzer Zeit keine quantifizi­erbaren Zahlen nachweisen kann.“Manche Kritiker mutmaßten, dass Boris Johnson die Übertragba­rkeit der neuen Variante noch übertriebe­ner dargestell­t hat, als sie ohnehin ist, um eigene Versäumnis­se zu kaschieren.

Die Auswirkung­en der Flugstreic­hungen waren an fast allen großen europäisch­en Flughäfen zu spüren: Rund 50 Passagiere aus Großbritan­nien mussten die Nacht zum Montag im Transitber­eich des Münchner Flughafens verbringen.

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