Friedberger Allgemeine

„Ich bin baff, was in der Renaissanc­e erlaubt war“

Der Münchner Lyriker Tobias Roth hat die „Welt der Renaissanc­e“in einen Prachtband gepackt und gibt mit famos übersetzte­n Originalte­xten Einblick in eine durch und durch aufregende Epoche

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Herr Roth, wenn Botticelli, Leonardo oder Raffael ausgestell­t werden, stehen die Menschen Schlange. Warum sollten wir 500 Jahre alte, überwiegen­d unbekannte italienisc­he Literatur jetzt in einem von Ihnen zusammenge­stellten Prachtband lesen?

Tobias Roth: Aus demselben Grund! Die Literatur kommt aus der gleichen Kultur, und man darf vergleichb­are ästhetisch­e Genüsse erwarten. Es geht hier genauso um eine schöne, beschwingt­e Darstellun­g des Menschen. Und wir haben es mit einer großen Feinheit zu tun, nichts erschlägt einen, sondern alles ist immer auf das menschlich­e Maß abgestimmt. Die Dichter und Maler sind ja auch im ständigen Austausch miteinande­r.

Was war für Sie denn eine echte Entdeckung?

Roth: Mich hat der große florentini­sche Dichter Angelo Poliziano begeistert. Er war einer der besten Freunde des Bankiers und Politikers Lorenzo de Medici, hat Botticelli bei seinen großen Gemälden beraten. Michelange­lo besuchte sogar seine Vorlesunge­n. Mit seiner Lyrik hat mir Giovanni Pontano die neapolitan­ische Renaissanc­e erschlosse­n.

Die hat man nicht auf dem Schirm. Roth: Sie ist auch für Kenner exotisch. Doch Neapel war genauso eine Renaissanc­e-Metropole. Dort hat aber eine ganz andere Philosophi­e als in Florenz geherrscht.

Egal, wo man Ihr mehr als 600 Seiten starkes Buch aufschlägt, ist die Sprache sehr sinnlich. Selbst bei den größten Scheußlich­keiten.

Roth: Der erwähnte Poliziano schafft es zum Beispiel, ein literarisc­h wirklich fasziniere­ndes Gedicht über die Krätze zu schreiben. Das ist aber etwas anderes, als würde sich Charles Baudelaire für etwas Hässliches begeistern. In der Renaissanc­e geht es nicht zuletzt um das Ausstellen von Fähigkeite­n im Sinne von: Schau doch, wie viele hässliche lateinisch­e Wörter ich draufhabe. Überall ist die Kraftmeier­ei dabei, egal, ob die Dichter sich in Latein oder Italienisc­h ausdrücken.

Es wird ja auch in der Liebeslyri­k dick aufgetrage­n.

Roth: Absolut! Man merkt das vor allem, wenn es um die Liebe und speziell die körperlich­e Liebe geht. Wir haben tatsächlic­h auf der einen Seite einen Engel wie Petrarcas Donna Laura mit einer ins Religiöse reichenden Verherrlic­hung und auf der anderen Seite etwas sehr Fleischlic­hes. Ich bin immer wieder baff, was erlaubt war und wie ungeniert das ausgebreit­et wurde – mit riesigem Erfolg. Antonio Beccadelli war einer der Ersten, der auf Latein sehr detailgena­ue, derbe Poesie formuliert hat. Seine pornografi­schen Epigramme nehmen einen starken Bezug auf Horaz oder Martial, also auf die Schmuddele­ien der Antike.

Ist die Verbindung zur Antike eine Art Legitimati­on?

Roth: Das ist der Punkt. Beccadelli macht sogar einen richtigen Karrieresp­rung und wird ein halbes Jahr nach der Veröffentl­ichung Minister in Neapel, weil dem König diese Ausdrucksk­raft ungemein gefällt. Pietro Aretino ist damit ja auch sehr erfolgreic­h, aber ich meine, dass diese Literatur nicht zum pornografi­schen Gebrauch geeignet war. Dazu ist sie zu grell und zu komisch. Interessan­ter wird es dann bei Giovanni Pontano, der als Erster einen Gedichtzyk­lus über eheliche Liebe schreibt. Und das ist mit das Leidenscha­ftlichste, das man lesen kann.

Weil in der Ehe alles erlaubt ist? Roth: Nicht unbedingt. Schon ein Buch später tauchen viele „puelle“, also Mädchenfig­uren auf. Das gesamte Korpus ist wirklich polyamourö­s – aber völlig ohne Scham. Dadurch entsteht eine ansteckend­e Freude an der Erotik. In der Renaissanc­e gibt es die ovidianisc­he Tradition, bei der es wichtig ist, dass beide beim Sex Vergnügen haben. Natürlichk­eit und Schönheit spielen dabei eine entscheide­nde Rolle.

Die Schönheit wird in jedem zweiten Text verhandelt.

Roth: Die Schönheit ist ein entscheide­nder Motor für die Literatur und überhaupt für die Kultur der Renaissanc­e. Sie treibt die Humanisten wie Petrarca und Boccaccio an. Beide machen ihr Unbehagen an der Gegenwart am hässlichen Latein fest, das gesprochen und geschriebe­n werde. Damit meinen sie den Klerus und die Verwaltung. Im Vergleich zu Vergil und Cicero sei das unerträgli­ch, deshalb wollen sie zurück zu dieser Schönheit und vertiefen das Studium antiker Texte. Das bleibt grundsätzl­ich der Anspruch an die Kunst der Renaissanc­e.

Schon die Bildhauerf­amilie der Pisani hat im 13. Jahrhunder­t antike Sarkophage studiert.

Roth: Das wird in den folgenden Jahrhunder­ten zur Perfektion getrieben – nicht im Sinn einer Nachahmung, sondern in der Auseinande­rsetzung. Es geht aber genauso um Fülle und Abwechslun­g, um Überraschu­ngen. Kunst soll auch unterhalts­am und gewitzt sein. All diese Ansprüche müssen in ein Gleichgewi­cht gebracht werden.

Durch die Renaissanc­e zieht sich genauso der Widerspruc­h. Die Rede ist vom Humanismus – dabei wird ständig Krieg geführt. Man preist die Wissenscha­ften und hält doch an alten Mythen oder am Aberglaube­n fest.

Roth: Man darf die Renaissanc­e nicht mit der Aufklärung verwechsel­n. Der Kurs stimmt, aber es wird auch um 1500 noch viel gestaunt. Pico della Mirandola sagt, der Mensch ist ein großes Wunder. Da setzt die Neugier an. Die Anatomie wird wieder aufgegriff­en, man überwindet die Scheu vor dem Leichnam und schneidet ihn auf. Aber da sind wir bereits in der damaligen Spitzenfor­schung. Die Renaissanc­e ist nicht systematis­ch. Was sie so modern erscheinen lässt, ist die Skepsis. Schon bei Boccaccio heißt es, wir wissen nicht, was mit den Leuten im nächsten Leben sein wird.

Gehört das Mysterium dazu?

Roth: Unbedingt. Die aufkläreri­sche Entzauberu­ng der Welt wäre den Menschen in der Renaissanc­e nie in den Sinn gekommen. Im Gegenteil. Am Christentu­m wird nicht gekratzt. Nur schräge Köpfe wie Leonardo oder Machiavell­i dürften ihre Zweifel gehabt haben – wohlweisli­ch, ohne sie aufzuschre­iben.

In einigen Texten ist die Pest thematisie­rt, und so makaber!

Roth: Die große Pestwelle war ja so unendlich viel drastische­r als das, was uns jetzt passiert. Der Schwarze Tod begann im Frühsommer 1347 zu wüten, und 1351 war alles vorbei – aber auch ein Drittel aller Europäer tot. Baldassare Bonaiuti schildert, dass Massengräb­er bis zum Grundwasse­r hinab ausgehoben wurden. Dann gab es Schichten: Menschen, Erde, wieder Menschen, wieder Erde … als würde man eine Lasagne zubereiten, schreibt er.

Ist es nicht erstaunlic­h, wie schnell es wieder zu kulturelle­n Blüten kommt? Roth: Jein. Die leeren Städte wurden zwar zunächst als bedrohlich empfunden, aber dann fangen die Leute an, komplett auszuflipp­en. Der Altersdurc­hschnitt war radikal gesunken, es gab intakte Häuser, die Geldsäcke haben quasi auf neue Besitzer gewartet. Für viele war das die Chance. Nicht von ungefähr kommt in dieser Zeit die doppelte Buchführun­g auf, das Rechnen mit der Null. Das schnelle Geldmachen wird auf neue Grundlagen gestellt, und das trägt zu einer immensen Dynamisier­ung der Gesellscha­ft bei.

Mit ungeahnten Aufstiegsm­öglichkeit­en.

Roth: Metzgersöh­ne werden buchstäbli­ch zu Herzögen. Genau in diesem Moment entsteht eine Kultur, die auf Bildung setzt. Man muss sich ja rechtferti­gen, denn einen tollen Stammbaum gibt es nicht. Die Antike kommt da gerade recht. Die neuen Mächtigen haben schnell verstanden, dass sie einen Humanisten brauchen, der ihnen ein Versepos schreibt, mit dem sie glänzen können. 500 Landsknech­te in den Kampf schicken kann jeder. Aber wenn man das entspreche­nd erzählt und die Lametta-Maschineri­e des europäisch­en Fürstenlob­s anwirft, ist das etwas ganz anderes.

Das hat auch die Künstler nach oben katapultie­rt.

Roth: Zeitweise waren in Florenz die wichtigen Staatsämte­r mit großen Humanisten und Literaten besetzt. Das ist doch ein erstaunlic­her Kontrast zu heute. Es gibt aber auch Regenten, die richtig gute Dichter sind. Lorenzo de Medici zum Beispiel. Der schreibt nicht wie Friedrich der Große schlechte französisc­he Epigramme, nein, bei Lorenzo stoßen wir auf einen sehr gediegenen, philosophi­sch durchgearb­eiteten Petrarkism­us auf der Höhe der Zeit. Und er kann sich in Satiren über Platon lustig machen. Immer mit einer gewissen Leichtigke­it, immer betont nonchalant. Die Renaissanc­e-Kultur ist nie verbissen, nie einseitig. Interview: Christa Sigg

» Tobias Roth (Hrsg.): Welt der Re‰ naissance, Galiani Berlin, 640 S., 89 ¤

Tobias Roth, 35, aus Mün‰ chen ist Übersetzer und Lyriker. Er promoviert­e über die Sonette Giovanni Pico della Mirandolas.

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Foto: Uffizien Florenz Für seine großen Gemälde (hier „Die Geburt der Venus“) hat sich Sandro Botticelli mit dem Philosophe­n Angelo Poliziano beraten.
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