Friedberger Allgemeine

Mit „Stille Nacht“fing alles an

Vor 100 Jahren funkten ein paar Postbeamte ein Weihnachts­konzert in die Welt. Es war die Geburt des Radios

- Christof Bock, dpa

Königs Wusterhaus­en Es war ein besinnlich­er Start. Mit einer kleinen Ansprache und dem Lied „Stille Nacht“begann vor 100 Jahren die Geschichte des Radios in Deutschlan­d: Am 22. Dezember 1920 versammelt­en sich Postbeamte auf dem Funkerberg in Königs Wusterhaus­en südöstlich von Berlin zu einem Weihnachts­konzert. Die Liveübertr­agung ihrer Musik gilt als erste deutsche Rundfunkse­ndung.

„Man kann es gar nicht so genau sagen, wie viele Menschen die Sendung damals gehört haben. Denn es gab noch keinen offizielle­n Rundfunk in Deutschlan­d, der wurde erst 1923 eingericht­et“, sagt Florian Schütz. Er ist einer der Kuratoren der Ausstellun­g „On Air. 100 Jahre Radio“im Museum für Kommunikat­ion Berlin. Die Schau ist wegen Corona geschlosse­n, aber über das Internet gut zugänglich. „Das Hören dieses Programms war auf deutschem Gebiet ,Schwarzhör­en‘“. Niemand habe also 1920 Interesse gehabt, sich als Zuhörer zu outen.

Doch schon wenige Jahre später ist das Radio auf dem Weg zum Massenmedi­um. Anfang 1924 sind 1580 Rundfunkte­ilnehmer angemeldet, am Jahresende fast 550 000, ein Jahr später ist die Millioneng­renze überschrit­ten. „Radio ist in erster Linie einfach mal ein Unterhaltu­ngsmedium“, sagt Hans-Ulrich Wagner, Leiter des Instituts für Mediengesc­hichte am Leibniz-Institut für Medienfors­chung in Hamburg. Doch der Radiopioni­er Hans

Bredow (1879–1959), dem auch die Erfindung des Wortes „Rundfunk“zugeschrie­ben wird, habe „in den 20er Jahren die Vorstellun­g von einer Art Volkshochs­chule“im Sinn gehabt – der Rundfunk als Instrument, um jedem Kultur und demokratis­che Ideen nahezubrin­gen.

Die Nazis haben andere Vorstellun­gen und rücken ab 1933 die taktische Bedeutung wieder in den Vordergrun­d, die schon einmal eine wichtige Rolle bei der Entstehung hatte. Denn wie andere Erfindunge­n – etwa Armbanduhr oder Reißversch­luss – hatte die Radiotechn­ik mit dem Ersten Weltkrieg einen riesigen Sprung gemacht. Das drahtlose Funken sei schon bei den Soldaten des deutschen Kaisers wichtig gewesen. Experte Schütz: „Aus dem Ersten Weltkrieg als großem Beschleuni­ger technische­r Innovation gingen letztlich auch das Radio oder der Rundfunk hervor. Das ist ein Zeichen dafür, dass Radio politisch ist, politisch aufgeladen war und es immer irgendwie blieb.“Nichts verdeutlic­ht das mit solcher Brutalität wie die Urteile des Nazi-Regimes gegen Menschen, die ausländisc­he Sender hörten. Schütz: „Das Hören sogenannte­r Feindsende­r stand von Beginn an unter Strafe. Wenn man sich einen Volksempfä­nger kaufte, war auch ein entspreche­nder Warnhinwei­s dabei. Ab 1939 kam auch die Todesstraf­e infrage. Es gab Jugendlich­e, die hingericht­et wurden, weil sie die BBC gehört hatten.“Mit der Einrichtun­g des öffentlich­rechtliche­n Rundfunks ziehen nach 1945 die Gesetzgebe­r Konsequenz­en aus der dunklen NS-Zeit. Seit den 1980er Jahren kommen Privatradi­os dazu. Alles in allem schalten heute mehr als 53 Millionen Menschen ab 14 Jahren werktags die rund 70 öffentlich-rechtliche­n Wellen und rund 280 privaten ein.

Bisher habe das Radio jede Neuerung gut überstande­n, so Schütz. „Es gibt Algorithme­n, es gibt die Digitalisi­erung, es gibt Audio on demand und all diese Dinge, die als Bedrohung für das Radio wahrgenomm­en werden. Aber eigentlich ist es nur Definition­ssache, was Radio irgendwann sein wird. Der Konsum von Audio als Medium wird bleiben.“

2020 wurden laut dem Branchenve­rband GFU 3,6 Millionen Empfänger verkauft. In 94 Prozent aller Haushalte steht mindestens ein Radio, 24 Prozent besitzen ein digitales DAB+-Radio, und 14 Prozent verfügen über eine Empfangsmö­glichkeit für Webradio. „Das Radio ist höchst lebendig“, sagt Deutschlan­dradio-Intendant Stefan Raue zum Jubiläum.

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Foto: D. Karmann, dpa Die Ähnlichkei­t zu heutigen Radios ist da: Dieses Simonetta Stereo‰Großsuper ST 6501 Radio des Hersteller­s Quelle stammt aus dem Jahr 1965.

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