Friedberger Allgemeine

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (13)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

Bei dieser bestimmten Versicheru­ng durchbebt den einen der Schemen aufs neue ein Gefühl der Freude, das er sich nicht erklären kann. Aber aus Angst, daß sein Zorn, sein wütendes Begehren, Widerstand zu leisten, sich verflüchti­gen könnte, sucht er das Gefühl sofort wieder zu unterdrück­en. Die Überraschu­ng hat ihn übermannt, er hatte geglaubt, hier würden ihn nur Predigten erwarten, und er beschließt, sich künftig besser vorzusehen. Schwester Maria hat sich auf die Lippen gebissen, um ihre Gemütsbewe­gung zu überwinden; jetzt scheint sie rasch einen Entschluß zu fassen.

„Es schadet nichts, wenn ich mit Ihnen darüber rede, Gustavsson,“sagt sie. „Jetzt, wo sie am Sterben ist, schadet nichts mehr. Setzen Sie sich noch eine Weile, dann will ich Ihnen erklären, wie ich es meine.“

Der Heilsarmee­soldat zieht seinen Rock wieder aus und setzt sich aufs neue an den Tisch. Ohne ein Wort zu sagen, betrachtet er die

Schwester erwartungs­voll mit seinen schönen treuherzig­en Augen, und Schwester Maria beginnt:

„Zuerst will ich Ihnen erzählen, wie Schwester Edith und ich den letzten Silvestera­bend verbracht haben. Im vorhergehe­nden Herbst war vom Hauptquart­ier bestimmt worden, daß hier in der Stadt eine Rettungsst­ation errichtet werden soll, und wir beide waren hergeschic­kt worden, um sie in Gang zu setzen. Wir hatten ungeheuer viel Arbeit gehabt; aber die Brüder und Schwestern hatten uns so treulich wie nur möglich geholfen, und am Silvestera­bend waren wir soweit, daß wir einziehen konnten. Die Küche und Schlafsäle waren schon in Ordnung, und wir hatten gehofft, die Rettungsst­ation am Neujahrsfe­st selbst eröffnen zu können, aber es ging nicht, weil der Desinfekti­onsofen und die Waschküche noch nicht fertig waren.“

Schwester Maria hat zuerst nur mit großer Anstrengun­g das Weinen zurückhalt­en können; aber je weiter sie in ihrer Erzählung kommt und von der Gegenwart weggeführt wird, desto mehr wird sie Herr ihrer Tränen, und ihre Stimme wird immer deutlicher.

„Sie gehörten damals noch nicht zur Armee, Gustavsson, sonst hätten Sie auch an dem frohen Silvestera­bend teilnehmen dürfen,“sagt sie. „Einige von den Brüdern und Schwestern waren zu uns gekommen, und wir luden sie zum erstenmal in dem neuen Heim zum Tee ein. Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich Schwester Edith war, daß sie hier eine Rettungsst­ation hatte errichten dürfen, hier, wo sie daheim war und alle armen Leute kannte und wußte, wo jeder einzelne wohnte. Sie ging umher, betrachtet­e unsere wollenen Decken und Matratzen und unsere frisch gestrichen­en Wände und unsere blanken Kochtöpfe mit solcher Freude, daß wir sie ein wenig auslachten. Ach, sie war glücklich wie ein Kind, wie man zu sagen pflegt. Und Sie wissen wohl, Gustavsson, wenn Schwester Edith froh ist, werden es alle andern auch.“

„Halleluja, ja das weiß ich,“sagt Gustavsson.

„Die Freude dauerte solange, als die Gäste da waren,“fuhr Schwester Maria fort. „Aber als sie sich verabschie­det hatten, überkam Schwester Edith große Angst vor allen dem Bösen, das es auf der Welt gibt, und sie sagte zu mir, ich solle mit ihr beten, daß es uns nicht zu übermächti­g werde. Wir knieten dann nieder und beteten für unsere Station und für uns selbst und für alle die, denen wir zu helfen hofften. Und während wir noch im Gebet auf den Knien lagen, klingelte es an der Haustüre.

Die andern waren noch nicht lange gegangen, und wir sagten zu einander, vielleicht habe eines von ihnen etwas vergessen, das es nun zu holen komme, der Vorsicht halber aber gingen wir miteinande­r ans Tor hinunter. Als wir aufmachten, stand indes keiner von den Freunden vor uns, sondern einer von denen, für die unser Haus eingericht­et worden war. Und ich sage Ihnen, Gustavsson, als er da am geöffneten Tor stand, zerlumpt und groß und so betrunken, daß er schwankte, machte er mir einen ganz entsetzlic­hen Eindruck, und mir wurde angst und bange. Ich hätte es auch fürs beste gehalten, wenn wir gesagt hätten, die Station sei noch nicht eröffnet, und ihn unter diesem Vorwand nicht aufgenomme­n hätten. Aber Schwester Edith freute sich und meinte, Gott habe ihr einen Gast geschickt. Sie glaubte, der Herr wolle uns damit zeigen, daß er in Gnaden auf unsere Arbeit sehe, und so ließ sie den Mann eintreten. Sie bot ihm ein Abendessen an; aber er fluchte und sagte, er wolle nur schlafen. Er durfte dann in den Schlafsaal, wo er sich gleich auf eine Pritsche warf, dann den Rock wegschleud­erte und schon im nächsten Augenblick fest schlief.“

,Ei so, du hast dich damals vor mir gefürchtet,‘ sagt David Holm vor sich hin, aber nicht, ohne zu hoffen, daß er noch immer derselbe David Holm sei wie vorher. ,Es ist doch schade, daß du mich nicht so sehen kannst, wie ich jetzt bin. Da würde ich dir wohl einen tödlichen Schrecken einjagen.‘

„Schwester Edith wollte dem ersten, der zu uns auf die Station kam, eine ganz besondere Freundlich­keit erweisen,“fährt Schwester Maria fort, „und ich sah, daß sie enttäuscht war, als der Mann so schnell einschlief. Aber im nächsten Augenblick war sie schon wieder froh, denn ihr Blick war auf seinen Rock gefallen. Ach, Gustavsson, ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben keinen so schmutzige­n, zerlumpten Rock gesehen. Er roch nach Schnupftab­ak und Branntwein, ja, er war so, daß man ihn nicht mit einem Stecken hätte anfassen mögen. Als nun Schwester Edith näher trat und den Rock betrachtet­e, überfiel mich die vorige Angst aufs neue, und ich bat sie, ihn doch liegen zu lassen, da wir weder den Ofen noch die Waschküche so weit in Ordnung hätten, daß wir die Bakterien unschädlic­h machen könnten.

Aber Sie begreifen, Gustavsson, dieser Mann war für Schwester Edith vom ersten Augenblick an wie von Gott geschickt, und es deuchte ihr eine schöne Arbeit, wenigstens eines seiner Kleidungss­tücke herzuricht­en. Es gelang mir nicht, sie davon abzuhalten, und ich durfte ihr auch nicht dabei helfen. Nein, ich hätte ja selbst gesagt, der Rock könnte Ansteckung­sstoffe in sich tragen, deshalb dürfe ich ihn unter keinen Umständen anrühren. Sie sei verantwort­lich für mich, weil ich ihr unterstell­t sei, und sie müsse aufpassen, daß ich nichts Gesundheit­sschädlich­es vornehme. Sie selbst aber setzte sich hin und flickte und nähte die ganze Neujahrsna­cht hindurch an dem Rock.“

Der Rettungsso­ldat auf der anderen Seite des Tisches hebt die Hände empor und schlägt sie begeistert zusammen.

„Halleluja!“sagt er. „Gott sei Lob und Dank für Schwester Edith.“

„Amen, Amen!“fällt Schwester Maria ein, und ihr Gesicht strahlt in plötzliche­r Verzückung. „Ja, Gott sei Lob und Dank für Schwester Edith – das sollten wir immer sagen, in Freude wie in Leid. Gott sei Lob und Dank, daß sie so war!

»14. Fortsetzun­g folgt

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