Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (15)
Warum wollen Sie denn dann, daß ich ihn holen soll? Haben Sie etwa seit jenem Morgen irgendeine Besserung an ihm bemerkt? Es ist, als wollten sie ihn hier haben, damit Schwester Edith sehen soll, daß sie Gott vergebens angefleht hat. Warum wollen Sie ihr ein solches Leid zufügen?“
Schwester Maria betrachtet ihren Mitarbeiter mit einer Ungeduld, die an Zorn grenzt, und sagt:
„Ich bin noch nicht fertig.“Aber er unterbricht sie sofort. „Wir müssen uns vor den Schlingen der Rachsucht in acht nehmen, Schwester Maria!“mahnt er. „Auch in mir ist noch ein Rest von dem alten Adam lebendig, der David Holm gerade in dieser Nacht herbeiholen, ihn der Sterbenden da drinnen zeigen und ihr sagen möchte, daß gerade er schuld daran sei, daß sie von uns gehen muß. Schwester Maria, ich glaube, es ist Ihre Absicht, David Holm zu sagen, Schwester Edith sei beim Flicken seines Rockes, den er in seiner Undankbarkeit gleich
wieder zerrissen hat, tödlich angesteckt worden. Ich habe Sie sagen hören, Schwester Edith habe seit der letzten Neujahrsnacht nicht einen gesunden Tag mehr gehabt. Aber wir müssen uns in acht nehmen, Schwester Maria. Wir, die mit Schwester Edith zusammengelebt haben und sie noch so deutlich vor uns sehen, müssen uns davor in acht nehmen, unserer Herzen Hartheit nachzugeben.“
Schwester Maria beugt sich über den Tisch vor und redet nun, ohne aufzusehen, wie wenn sie ihre Worte in Reih und Glied auf dem Tischtuch aufgestellt hätte.
„Rache?“sagt sie. „Ist es Rache, wenn man einem Menschen zu verstehen gibt, daß er das Herrlichste zu eigen hatte und es verloren hat? Oder ist es Rache, wenn ich das rostige Eisen ins Feuer lege, damit es aufs neue frisch und blank werde – ist das Rache?“
„Ja, ja, ich wußte es wohl, Schwester Maria,“fällt ihr der Rettungssoldat mit derselben Aufregung ins Wort. „Sie haben gehofft, David Holm bekehren zu können, indem Sie ihm die Bürde der Gewissensqualen aufladen. Aber haben Sie auch recht bedacht, ob es nicht unsere eigene Rache ist, die wir pflegen und nähren wollen? Dies hier ist eine lauernde Schlinge, Schwester Maria, ach, man kann sich so leicht täuschen!“
Die kleine bleiche Rettungsschwester sieht den Gefährten mit einem Blick an, aus dem ihm die Begeisterung der Selbstverleugnung entgegenstrahlt.
„Heute nacht suche ich nicht das meinige,“sagt dieser Blick ganz deutlich. „Es gibt bei so etwas allerdings viele lauernde Schlingen,“wiederholt sie mit großem Nachdruck laut.
Der Rettungssoldat wird dunkelrot; er versucht zu antworten, aber die Worte versagen ihm. Im nächsten Augenblick wirft er sich über den Tisch vor, verbirgt das Gesicht in den Händen und fängt, von dem langen zurückgehaltenen Kummer überwältigt, zu weinen an.
Die Rettungsschwester stört ihn nicht, über ihre Lippen dringt ein Gebet.
„Ach lieber Gott, lieber treuer Heiland, hilf uns durch diese schwere Nacht! Gib mir Kraft, allen meinen Freunden zu helfen, mir, die ich die schwächste bin und am wenigsten verstehe!“Der Gefesselte hat der Anklage, daß er die Heilsarmeeschwester angesteckt habe, fast gar keine Aufmerksamkeit geschenkt; aber als der junge Rettungssoldat in Tränen ausbricht, macht er eine heftige Bewegung. Er hat eine Entdeckung gemacht, die ihn mächtig ergreift, und gibt sich gar keine Mühe, seine Erregung vor dem Fuhrmann zu verbergen. Es gefällt ihm recht gut, daß sie, die dieser schöne junge Mensch liebt, ihn selbst vorgezogen hat.
Als das Schluchzen des Rettungssoldaten an Heftigkeit abnimmt, hört die Schwester zu beten auf und sagt mit weicher Stimme:
„Sie denken an das, was ich vorhin von Edith und David Holm gesagt habe, Gustavsson.“
Ein ersticktes ja dringt zwischen den Rockärmeln hervor, und der ganze Körper des Mannes wird von heftigem Schmerz erschüttert.
„Und es ist Ihnen ein tiefer Schmerz, das begreife ich wohl,“fährt Schwester Maria fort. „Ich kenne einen anderen, der Schwester Edith auch von ganzer Seele liebte, und als sie es merkte, sagte sie zu sich selbst, sie könne das nicht begreifen. Sie meinte, wenn sie jemand lieben würde, so müßte es einer sein, der hoch über ihr stünde, und das denken Sie auch, Gustavsson. Wir können wohl unser Leben drangeben, um den Elenden zu dienen, aber unsere natürliche und menschliche Liebe einem von ihnen schenken, das wäre uns unmöglich. Wenn ich Ihnen nun aber sage, daß Schwester Edith anders angelegt ist, so meinen Sie, das sei etwas Entwürdigendes, und es quält und schmerzt Sie, Gustavsson.“
Der Rettungssoldat rührt sich nicht; sein Kopf liegt noch auf der Tischplatte. Die unsichtbare Gestalt dagegen macht einen Versuch, sich den beiden am Tisch zu nähern, wie um besser hören zu können, erhält aber sofort von Georg den Befehl, sich ruhig zu verhalten.
„Wenn du dich bewegst, David, muß ich dir eine so schwere Strafe auferlegen, wie du dir noch nie eine hast träumen lassen,“sagt er. Und David Holm, der nun weiß, daß Georg Wort hält, bleibt unbeweglich liegen.
„Halleluja!“ruft Schwester Maria mit verzücktem Ausdruck im Gesicht. „Halleluja! Wer sind wir, daß wir sie verurteilen wollten? Haben Sie es nicht auch schon gesehen, Gustavsson; wenn ein Herz von Hochmut erfüllt ist, dann gibt es seine Liebe einem der Mächtigen und Großen in dieser Welt, wenn aber in einem Herzen nur Demut und Erbarmen wohnt, wem sollte es dann seine größte Liebe geben als dem, der am tiefsten in Herzenshärtigkeit,
Verkommenheit und Verirrung versunken ist?“
Bei diesen Worten ist David Holm an der Reihe, einen Stich von Unbehagen zu fühlen.
,Aber du bist doch heute nacht recht sonderbar!‘ denkt er im stillen. ,Warum kümmerst du dich darum, was diese Menschen da über dich sagen? Hast du erwartet, sie würden dir ihre ganz besondere Hochachtung aussprechen?‘
Jetzt hebt der Rettungssoldat den Kopf vom Tisch auf, sieht die Schwester prüfend an und sagt:
„Es ist nicht allein das, Schwester Maria.“
„Ja, ja, ich verstehe wohl, was Sie meinen, Gustavsson. Aber Sie dürfen eins nicht vergessen; Schwester Edith wußte zuerst nicht, daß David Holm verheiratet war. Und jedenfalls,“fährt sie nach einem kurzen Zögern fort, „– es ist wenigstens sehr schwer, etwas anderes zu denken – ging meiner Ansicht nach ihre ganze Liebe darauf aus, ihn zu bekehren. Wenn er auf dem Podium gestanden und bekannt hätte, daß er gerettet sei, dann wäre sie befriedigt gewesen.“
Gustavsson hat Schwester Marias Hand ergriffen, und sein Blick hängt an ihrem Mund. Bei ihren letzten Worten dringt ein Seufzer der Erleichterung über seine Lippen.