Nun bleibt ihm vor allem Hoffnung
Mario Rossi arbeitete bei einem Autozulieferer – hart und viel. Nach Jahren des Booms kam erst die Krise, dann Corona – und Rossi verlor seinen Job. Jetzt kämpft und hofft er
Augsburg Nach dem Gottesdienst umfasst der zehnjährige Francesco den Bauch seines Vaters, drückt sein Gesicht dagegen, guckt nach unten. Er will nichts sagen. Zur schwierigen Lage, in der seine Familie steckt. „Wir vertrauen auf Jesus Christus“, unterbricht sein Vater Mario die Stille. „Es wird wieder bergaufgehen.“Francesco nickt. Mario Rossi ist nicht der richtige Name des Vaters. Er will nicht, dass sein wahrer Name im Zusammenhang mit dem Jobverlust auftaucht.
Vor Corona war Mario Rossi angestellt bei einer Firma, die Teile für die Automobilproduktion fertigt. Er hat im Lager, in der Kommissionierung, gearbeitet. Wir haben uns mit Mario Rossi in seinem Reihenhaus zum Interview getroffen, eine Woche später zum Kirchgang in der Italienischen Mission Augsburg. Wir wollten von ihm wissen, was sich in seinem alltäglichen Leben verändert hat, seit er arbeitslos ist, in seinem und in dem seiner Familie. Wir wollten wissen, wie er nun auf die Arbeitswelt blickt. Und dabei sein, wenn er wieder zu Kräften kommt. „Die Kirche ist meine Tankstelle“, sagt Rossi, „ohne sie wüsste ich nicht, wie ich die Wochen überstehen soll.“
Draußen steht ein rotes italienisches Auto. Es wird sie, Vater und Sohn, Mesner und Messdiener, gleich zur Kirche im Augsburger Stadtteil Kriegshaber bringen. Dort wird Rossi auf Stadtpfarrer Gerhard Groll treffen. Nach Monaten der Arbeitslosigkeit liegt die Hoffnung der Familie konkret auf der Kirche. Rossi hat nach einem Job gefragt. Heute will er ihn noch einmal darauf ansprechen. Der Alfa ist sportlich geschnitten. Er hört sich an, als ob er sich für den roten Flitzer entschuldigen will. Heute erinnert ihn sein Auto daran, dass es schlecht läuft. Rossi deutet auf die TÜV-Plakette. „Muss ich auch bald wieder hin“, murmelt er. Dann steigt der kräftige Mann mit der tiefen Stimme ein. Lässt den Motor an. Die Tankanzeige leuchtet. „Hoffentlich kommen wir noch hin“, sagt er.
Rossi ist gläubiger Katholik. Er freut sich, dass nach dem Gottesdienst die Marienstatue ins Haus der Familie zurückkehren wird. Jede Woche steht sie im Haus einer anderen Familie der Gemeinde. Maria, eine Glücksbringerin. „Wir können gerade jede Hilfe gebrauchen.“Sie werden die Muttergottes ins Esszimmer stellen. „Sie muss mittendrin sein in unserer Familie.“
Wie haben Sie den Anfang der Krise wahrgenommen?
Mario Rossi: Ich bin gebürtiger Italiener. Ich habe ganz genau beobachtet, was da drüben los war. Diese ganzen Todesfälle. Dann hat Italien angefangen, die Grenzen zu schlieLockdown. Ich habe mich gefragt: Auf was wartet Deutschland? In Italien sind Tausende gestorben. Hier im Viertel habe ich das auch bemerkt. (Rossi zeigt durch das Küchenfenster auf seinen Hof). Dort ist ein Nachbar gestorben, dort schräg gegenüber eine ältere Frau. Da hieß es Lungenentzündung. Meine Firma hat dann das Richtige gemacht. Kurzarbeit. Mir sind nur 67 Prozent des Gehalts geblieben.
Aber im Kern fanden Sie die Entscheidung richtig, aus Sicherheitsgründen? Rossi: Ja, klar. Ich wollte nicht krank werden und meine Familie anstecken. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Arbeitskollegen, wir haben jahrelang zusammengearbeitet. Ich hatte keine Angst. Ich dachte, nach ein, zwei Monaten werde ich zurückkommen. Nach zwei Monaten habe ich gemerkt, dass die anderen wieder arbeiten gegangen sind. Dann kam der dritte Monat, da wurde es zum ersten Mal eng. Ich habe mich bei den Kollegen gemeldet. Ich wollte wissen, wie es aussieht. Die haben gesagt: „Mario, wir arbeiten, alles ganz normal.“Ich habe meinen Chef gefragt: „Jürgen, wie sieht es aus, wann kann ich wieder kommen?“Der hat nur geantwortet, „Mario, der Häuptling entscheidet, wer reinkommt. Ich kann gerade nichts tun.“
Wie ist es weitergegangen?
Rossi: Jede Woche habe ich gefragt, ob ich wieder kommen kann. Die Antwort: Kurzarbeit! Kurzarbeit! Kurzarbeit! Bis Juli ging das.
Man verliert das Selbstbewusstsein. Rossi: Ja, und das Geld wird immer knapper. Ich habe von meinen 2000 Euro Lohn nur noch 1100 Euro. Vor der Krise, da haben wir jeden Monat darauf geachtet, 100 Euro zur Seite zu legen. Gespart haben wir, für den Jahresurlaub nach Apulien. Die Ersparnisse waren nach zwei Monaten aufgebraucht. Ich glaube, sie wollten mich loswerden, weil ich einer der teureren Mitarbeiter war. Ich hatte mehr Verantwortung. Mein Stundenlohn lag bei 14 Euro netto.
Was war das für eine Firma? Rossi: Den Namen möchte ich nicht nennen. Nur so viel, wir haben mehrere hundert Mitarbeiter und produzieren für die Automobilindustrie, wir sind Zulieferer. Daneben arbeiten meine Frau und ich in der Kirche. Ich bin Mesner und meine Frau putzt. Wir machen das nicht wegen des Geldes, sondern aus Überzeugung. Wir sind Katholiken.
Wie haben Sie von Ihrer Kündigung erfahren?
Rossi: Ende Juli lag ein Brief im Postkasten. Ich soll zum Personalgespräch kommen. Ich habe gleich meinen Lagerleiter angerufen. „Jürgen“, habe ich gesagt, „ich habe da einen Brief bekommen, dass ich antanzen soll. Kannst du mir sagen, worum es geht?“Antwort: „Ich darf es dir nicht sagen.“Da wusste ich, was los ist. Ich bin nicht dumm. Da war mir alles klar. Bei uns wurde man nie ins Personalbüro gerufen, außer es steht die Kündigung an.
Gab es einen Betriebsrat?
Rossi: Nein, keine Chance. Wir sind ein Betrieb mit hunderten Mitarbeitern. „Wenn ihr einen Betriebsrat macht, dann verkaufe ich an die Chinesen“, hat der Chef gedroht. Man sagt, Familienunternehmen verhalten sich anders in der Krise. Bei uns war das nicht der Fall.
Mario Rossi und sein Sohn steigen aus dem Alfa Romeo, sie sind an der Kirche angekommen. Draußen ist es bewölkt, durch die Kirchenfenster dringen Lichtstrahlen. Sie gehen durchs Mittelschiff, eine kleine Treppe hinauf. Im hinteren Teil der Kirche wartet Gerhard Groll. Er hat gerade den Gottesdienst beendet. Die beiden grüßen sich, wie zwei Männer, die sich lange kennen. Rossi öffnet einen Schrank, streicht über den Stoff seines schwarzen Talars, zieht das Gewand heraus und streift es sich über. Gleich wird Rossi den Stadtpfarrer Groll noch einmal darauf ansprechen, ob er schon etwas gehört hat, wegen des Jobs.
Eine Woche vorher, bei Rossis zu Hause. Unvermittelt steht Mario Rossi auf und verlässt die Küche. Wenige Sekunden später streckt er den Schulranzen seines Sohnes hin. Rossi: Nehmen Sie mal, schauen Sie, wie schwer der ist. Wie soll mein Zehnjähriger mit dem Ranzen zur Schule gehen? Entweder muss ich ihn fahren oder er muss den Bus nehmen. Die Monatskarte kostet fast 50 Euro. Bald müssen wir 1500 Euro für Heizöl bezahlen. Manchmal, wenn ich wütend werde, gehe ich ins Schlafzimmer und mache die Tür zu. Dann knie ich und bete. Die Kirche, der Glaube und meine Familie – das ist, was mir Kraft gibt.
Sie sind Pizzabäcker, Sie haben lange in der Industrie gearbeitet, auf was für Stellen bewerben Sie sich? Rossi: Auf alles. Wissen Sie, ich hätte in Graben bei Amazon anfangen können. Abzüglich der Fahrtkosten hätte ich genauso viel raus wie mit dem Arbeitslosengeld. Ich suche etwas Langfristiges. Ich bin ein starker Mann, schauen Sie mich an. Ich habe mich bei der Stadt beworben, bei vielen Firmen und ich habe auch einmal in der Kirche gefragt, ob sie noch jemanden brauchen.
Es sehe auch bei ihnen gerade schlecht aus, sagt eine Woche später, in der Kirche, Stadtpfarrer Groll. Aber eventuell gäbe es in einer anderen Gemeinde einen Hausmeisterjob. „Verstehe“, antwortet Rossi. Er presst seine Lippen aufeinander. Er nickt viel in dem Gespräch. „Es war ein Versuch, ich erwarte nichts“, sagt er danach. Rossi ist nicht bitter, er ist ein Mann, der alles versucht, damit es für seine Familie wieder bergaufgeht. Er sagt oft: „Vielleicht brauchen sie mich ja, ich bin ein starßen. ker Mann.“Kurz darauf schreiten Mario und Francesco durch die Kirche. Sie stehen sich gegenüber, Mesner und Messdiener. Mario hält oft die Augen geschlossen, er tankt Kraft. In der Predigt des Pfarrers geht es darum, dass man ein guter Christ sei, wenn man die Werte auch außerhalb der Kirche vertritt. Taten zählten, nicht allein gute Worte.
Welcher finanzielle Posten trifft Sie gerade am härtesten?
Rossi: Wohnen. Die Preise sind brutal geworden. Sie steigen, sie steigen, sie steigen. Da kommt man nicht mehr mit als Normalverdiener. Verzeihen Sie mir, dass ich das so sage, aber die, die Immobilien haben, werden immer reicher. Und wir, die Arbeiter, kommen mit unseren Löhnen nicht mehr hinterher. Wir bluten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es zwei Arten von Menschen gibt. Die einen, die sich fragen, wie komme ich über die Runden, wie kann ich den Strom bezahlen, wie kann ich meinem Sohn das Monatsticket finanzieren? Und dann gibt es die, die sich fragen: Wo kaufe ich die nächste Wohnung, wo lege ich mein Geld an? Die fragen sich, ob sie lieber Aktien kaufen sollen oder ob Gold mehr bringt. Das sind doch keine Fragen, die sich Normalverdiener stellen.
Haben Sie ein Beispiel?
Rossi: Mein alter Chef. Die vergangenen zehn Jahre habe ich mir für ihn einen aufgerissen. Habe Überstunden gemacht, immer und immer wieder. Weit über dem, was eigentlich erlaubt ist. Ich habe gerne dort gearbeitet. Der Firma ging es gut. Ich hatte Verantwortung. Die Wirtschaft hat geboomt. Zehn Jahre lang. Und nun bei der ersten Krise, zack. Das ist doch nicht richtig.
Nach dem Gottesdienst. Francesco hat gerade aufgehört seinen Vater zu umarmen, da sagt Mario Rossi: „Was ist, wenn ich den Hausmeisterjob mache? Dann müsste ich am Sonntag in einer anderen Gemeinde arbeiten.“Er sagt, er würde es machen, aber ihm würde seine Gemeinde fehlen. Er deutet auf die Marienstatue, „sie muss uns jetzt helfen“.
Eine Woche später gibt es noch immer keine Neuigkeiten, ob es mit dem Job bei der Kirche klappt. Rossi hat den Mut nicht aufgegeben, sagt er am Telefon. Noch nicht.