Von Lkw überrollt: Eine Frau zieht vor Gericht
Vor mehr als sieben Jahren wurde Agata Norek als Fahrradfahrerin in Augsburg von einem Laster erfasst. Sie hatte keine Schuld, trug aber schwere gesundheitliche Schäden davon. Warum sie nun um Geld kämpft
Als Agata Norek am TheodorHeuss-Platz unter dem Lkw liegt, hört sie Schreie. Sie klingen weit entfernt. „Hören Sie mich?“, ruft eine Frau. Norek bringt noch ein „Ja“heraus, dann verliert sie das Bewusstsein. Über sieben Jahre ist es her, dass der Fahrer eines Kieslasters beim Rechtsabbiegen in der Augsburger Innenstadt die Radfahrerin übersehen hatte und überfuhr. Seit jenem verhängnisvollen Tag führt das Unfallopfer eine Auseinandersetzung gegen die Versicherung des Unfallverursachers. Es ist ein Kampf, der sie, wie sie sagt, viel Kraft kostet.
Dabei geht es nicht um Schmerzensgeld. Das hat die Mutter zweier Kinder, die wieder verheiratet ist kämpfe um deinen Atem.“Agata Norek liegt einige Tage im Koma, Ärzte ringen um ihr Leben. „Ich hatte Blut in beiden Lungen, die Schlagader war geplatzt, der Magen gerissen, die Milz kaputt, das Becken auseinandergerissen.“Mehr als 14 Operationen habe sie hinter sich, war in psychologischer Behandlung.
Die Folgen, die Norek beschreibt, sind enorm: Posttraumatische Belastungsstörungen, schwere Schlafstörungen, Vernarbungen, die Probleme bereiten, bis hin zum Darmverschluss. Und diese neurologische Verletzung im Kopf, die einen nicht mehr therapierbaren Gesichtsfeldausfall verursacht. Norek kann auf beiden Augen nur noch eingeschränkt sehen. „Wäre die Verletzung am Kopf nur ein paar Zentimeter weiter vorne gewesen, würde ich weder meine Kinder erkennen noch ein Ei kochen können.“
Die ehemalige Augsburgerin darf kein Auto mehr fahren, kann nicht lange vor dem Computer sitzen. Sie muss regelmäßig zur Physiotherapie, um beweglich zu bleiben. Trotz allem weiß sie, dass sie Glück im Unglück hatte, nicht tot ist, nicht geistig beeinträchtigt, nicht – mehr – auf einen Rollstuhl angewiesen. Allerdings war der Zeitpunkt des Unfalls, wenn sich das überhaupt so sagen lässt, unglücklich. Denn hier kommt nun die Bemessung des Verdienstausfalles durch die Versicherung ins Spiel.
Norek hatte nur wenige Monate vor dem Unfall ihre Doktorarbeit abgeschlossen. Die damals 35-Jährige hatte Malerei und Grafikdesign studiert, aufgrund ihrer Leistungen einige Stipendien erhalten. Anschließend promovierte sie – mit Auszeichnung, wie sie betont. Vom Jobcenter erhielt sie in dieser Zeit finanzielle Unterstützung. Für die damals alleinerziehende Mutter zweier Kinder im Alter von sechs und acht Jahren sei das eine Herausforderung gewesen. „Aber ich gab Vollgas mit dem Ziel, auf eigenen, festen Beinen zu stehen.“
2008 wurde die Malerin und Grafikdesignerin in den Berufsverband der Bildenden Künstler in Schwaben aufgenommen, 2012 gewann sie den Augsburger Medienpreis, weil sie die Zirbelnuss, das Wahrzeichen der
Stadt, mit leuchtenden Plexiglasscheiben als Blume darstellte. Die Zirbelnuss war eine Fortführung eines Konzeptes, das die Künstlerin im Rahmen der Installation „NorekJardin“vor dem Europäischen Parlament im Jahr 2011 präsentierte. Wenige Jahre später sollten weitere Werke im Bayerischen Landtag ausgestellt werden. Neben ihrem Leben als Künstlerin und Designerin wollte sich Norek nach der Doktorarbeit als „Creative Director“bei Firmen bewerben. Doch dann wurde sie vom Kieslaster überfahren.
Nun geht es um die Frage, was Norek jetzt in ihrem Beruf verdienen könnte, hätte der Unfall nicht ihr Leben auf den Kopf gestellt. Hier gehen die Meinungen des Unfallopfers und der Versicherung des Unfallverursachers auseinander. Nach vielen Befragungen und Gutachten habe die Versicherung sie finanziell auf einer Ebene mit einer Steuerfachgehilfin einordnen wollen, erzählt Norek. Für sie ist das ein Schlag ins Gesicht. „Dafür habe ich sicherlich nicht jahrelang studiert und promoviert.“So ist in der Klage gegen die Versicherung
zu lesen, dass bei Norek ohne das Unfallereignis von einer herausragenden Karriere auszugehen war. Die Versicherung des Unfallfahrers sieht das anders.
„Da Frau Norek zum Zeitpunkt des Unfalls nicht berufstätig war, ist der Verdienstausfall nicht einfach zu berechnen“, räumt eine Sprecherin der R+V Versicherung AG auf Nachfrage ein. Norek sei zum Zeitpunkt des Unfalls beim Jobcenter als arbeitssuchend gemeldet und als alleinerziehende Mutter zeitlich nur bedingt für den Arbeitsmarkt verfügbar gewesen. Die Versicherung bezieht sich auf Mitteilungen des Jobcenters Augsburg, wonach es in Gesprächen bereits Monate vor dem Unfall darum gegangen sei, die Selbstständigkeit aufzugeben und stattdessen eine Umschulung in einen kaufmännischen Beruf in Angriff zu nehmen. Eine Finanzierung zur Ausbildung zur Steuerfachangestellten habe im Raum gestanden. Agata Norek weist dies entschieden von sich, sagt, das Jobcenter muss sie bei dieser Auskunft verwechselt haben.
Nie im Leben wollte sie von ihrem
Berufsziel, für das sie so viel Zeit und Mühe investiert hatte, abweichen. In den damaligen Notizen des Jobcenter-Vertreters sei ihr zufolge kein Wort über eine Umschulung Richtung Büro oder Steuern gestanden. Es sei ausschließlich um die Anerkennung ihres Doktorgrades gegangen, was das Jobcenter finanziert habe. „Kein Mensch investiert Jahre in die Habilitation, verfügt über starke Referenzen, um kurz nach der Promotion den Titel in die Schublade zu stecken. Das wäre psychische Selbstverstümmelung“, betont sie. Ihr Anwalt Felix Egner weiß, dass in derartigen Fällen Versicherungen generell am längeren Hebel sitzen.
„Bei solch gravierenden Unfällen geht es oft um viel Geld. Versicherer sind meistens nicht bereit, außergerichtlich diese Summen zu bezahlen“, sagt Egner. Für die Haftpflichtversicherungen eines Schädigers spiele Zeit keine Rolle. „Diese langen Verhandlungszeiten gehen auf die Psyche der Opfer, die nicht nur körperlich, sondern auch seelisch stark beeinträchtigt sind. Erst werden sie schuldlos angefahren, dann fühlen sie sich auch noch verraten und sollen jahrelang für ihr Geld kämpfen.“
VerkehrsunfallOpferhilfe unterstützt Agata Norek
Viele Opfer würden irgendwann aufgeben und Entschädigungen, obwohl sie nicht angemessen sind, annehmen. Seiner Mandantin bescheinigt der Anwalt eine hohe mentale Stärke, „auch wenn das Ganze an ihr nicht spurlos vorbei geht“.
Unterstützung erhält Norek auch von der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland. Der Vorsitzende des Vereins Wilfried Echterhoff sagt, Versicherungen können gar nicht alle Auszahlungen solcher Gelder leisten. „Deshalb müssen sie so viele Fälle wie möglich abwimmeln oder klein halten. Da gibt es extra Abteilungen dafür.“Als Verband begrüße man den Kampfeswillen von Agata Norek und stehe ihr beratend zur Seite. Die 42-Jährige selbst sagt, sie denke dabei auch an alle anderen Verkehrsunfallopfer, die nicht mehr für sich kämpfen können.