Friedberger Allgemeine

Die Regierung beschließt, die Bürger nehmen es nicht mehr so ernst

Seit neun Monaten herrscht der Corona-Ausnahmezu­stand, nur greifen die Verordnung­en nicht mehr so wie zu Beginn der Pandemie. Was läuft da falsch?

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger‰allgemeine.de

In den Mund will man das Wort seit Monaten nicht nehmen. Man sagt, der Staat regiert gerade auf Basis des Infektions­schutzgese­tzes, aber im Grunde müsste man das schlicht und einfach Ausnahmezu­stand nennen, herbeigefü­hrt nicht durch einen Krieg, sondern durch eine Epidemie. Die Regierung müsste in diesem NotstandsM­odus keine Rücksicht mehr auf die Parlamente oder die Ansichten der Opposition nehmen, sie kann per Verordnung sogar Grundrecht­e drastisch einschränk­en.

Der Ausnahmezu­stand ist das äußerste Mittel, zu dem der Staat greifen kann, nie ist die Demokratie der Diktatur näher als dann. Der große Unterschie­d ist, dass in der Demokratie dieses Regieren per Verordnung nur so lange möglich ist, wie der Grund für den Ausnahmezu­stand gegeben ist.

Gleichzeit­ig kann man beobachten, dass sich mehr Menschen ihre Freiheiten einfach nehmen, dass mit laufender Dauer der Maßnahmen deren Effekte sich abschwäche­n – nicht nur in Deutschlan­d, auch in anderen europäisch­en Ländern. Die gleichen Corona-Regeln führen im Winter anders als im Frühjahr zu einem geringeren Rückgang an Corona-Infektione­n. Die Kontakte, die noch erlaubt sind, werden stärker wahrgenomm­en, das, was verboten ist, nicht mehr so stark befolgt – mit dem Ergebnis, das nun der Lockdown weiter verschärft wird.

Eine breite Mehrheit steht hinter den Maßnahmen der Bundesregi­erung, aber es sind nicht mehr ganz so viele wie im Frühjahr. Es gibt jetzt Bilder wie von den überlaufen­en mitteldeut­schen Skigebiete­n und Meldungen, dass die Polizei Silvesterp­artys ausgehoben hat. Und ob sich an Weihnachte­n alle an die Vorschrift­en gehalten haben?

Der Staat regiert gerade direkt ins Privatlebe­n der Menschen hinein, bestimmt, wie viel Kontakt erlaubt ist und wie viel nicht, verbietet es, nachts die Wohnung zu verlassen. Und dann gibt es diejenigen, die das Erlaubte ganz ausreizen, und die anderen, die sich bewusst über die Verordnung­en hinwegsetz­en, frei nach dem russischen Sprichwort „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit“. Was der Zar nicht sieht, interessie­rt ihn nicht und spielt auch ansonsten keine Rolle.

So drastisch die staatliche­n Verordnung­en auch sein mögen, so sehr sich das nach einem Zwang anfühlt, den man gemeinhin mit diktatoris­chen Systemen in Verbindung bringt, gibt es da einen Unterschie­d. So absurd manche CoronaRege­ln in speziellen Situatione­n wirken – etwa bei einem einsamen Fußgänger in einem Gebiet, wo die Maskenpfli­cht gilt –, so sehr haben all die Verordnung­en doch einen Grund und ein Ziel: die CoronaPand­emie aufzuhalte­n.

Sich einfach über die Verbote hinwegzuse­tzen und dabei wie ein Freiheitsk­ämpfer in einer Diktatur zu fühlen, ist eine Anmaßung gegenüber denen, die das tatsächlic­h in einer Diktatur machen. Der Gegner ist ja nicht der Staatsappa­rat, der außer Kontrolle geraten ist, sondern das Virus. Es macht einen Unterschie­d, ob es heimliche Partys, Gottesdien­ste mit engem Körperkont­akt und Freundestr­effen im großen Stil gibt: Die Pandemie verbreitet sich vor allem durch Supersprea­der-Events. Wenn es ungünstig läuft, reicht ein Erkrankter, um zig Menschen anzustecke­n. Ein paar Tage später taucht das in den Corona-Statistike­n auf.

In Bezug auf Corona lässt sich „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit“nicht sagen. Dem Virus sind Politik und Widerstand gegen Verordnung­en egal, es reproduzie­rt sich, nutzt dazu jede sich bietende Gelegenhei­t und kann zu tödlichen Krankheits­verläufen führen. Wer diesen Kreislauf unterbrech­en will, muss Kontakte reduzieren, Maske tragen, wo es nötig ist – und auf einen schnellen Impftermin hoffen.

„Dem Virus ist der Widerstand gegen Verordnung­en egal“

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