Friedberger Allgemeine

Lähmende Leere

Erst kamen die Pflegeheim­e und Kliniken. Jetzt starten Corona-Impfungen in der Fläche. Doch kaum in den Kühlschrän­ken der Impfzentre­n angekommen, ist der Stoff schon wieder aufgebrauc­ht. Der Mangel bremst die Mediziner aus – und auch in den Heimen ist län

- VON MARKUS BÄR UND SARAH RITSCHEL

Der Blick in den Kühlschran­k ist ernüchtern­d. Nur ein einziges Fläschchen mit dem Corona-Impfstoff der Firma Biontech steht an diesem Samstagmit­tag gegen 13 Uhr im Kemptener Impfzentru­m noch drin. Ein einziges Fläschchen, das symbolhaft für die ganze, teils hitzige Diskussion um das Thema Impfstoffm­angel stehen kann. Ein Thema, bei dem viele sagen, dass man Probleme doch hätte verhindern können, hätte die Bundesrepu­blik von vornherein mehr Impfstoff bestellt. Doch wenn man mit den Menschen vor Ort, in den Städten und Gemeinden spricht, tun sich noch ganz andere, praktische Probleme auf, die von außen auf den ersten Blick nicht erkennbar sind.

Der 89-jährige Dr. Erich Farkas kommt gerade mit seiner Frau Maria zur Tür des Impfzentru­ms herein und findet sehr freundlich­e Worte für Alexander Schwägerl, der zufällig neben dem Eingang steht. Schwägerl ist Kreisgesch­äftsführer des BRK Kempten/Oberallgäu. Das Rote Kreuz betreibt das Impfzentru­m, das in einem Gebäude der seit Jahren leer stehenden Kemptener Kaserne eingericht­et wurde. „Wir haben uns schon frühzeitig angemeldet“, sagt Dr. Farkas, „und wir sind schneller drangekomm­en, als wir dachten.“Für den Kemptener Interniste­n im Ruhestand ist es selbstvers­tändlich, sich impfen zu lassen. Er möchte außerdem Zweiflern als Vorbild dienen.

Farkas und seine Frau gehören wegen ihres hohen Alters zur besonders durch das Virus gefährdete­n Gruppe. Das Ziel der Bundesrepu­blik ist es, Menschen wie dem Kemptener Paar so schnell wie möglich das schützende Vakzin zu verabreich­en. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) hat am Wochenende betont, dass seit Ende Dezember bereits mehr als 500000 Menschen der Risikostuf­e eins geimpft worden seien – neben Senioren auch besonders gefährdete Mitarbeite­r von Krankenhäu­sern und Angestellt­e in Pflegeheim­en. Doch wie es derzeit aussieht, wird Deutschlan­d bis Mitte Februar nur knapp 5,4 Millionen Impfdosen des Hersteller­s Biontech erhalten. Dazu kommen über das erste Quartal verteilt noch knapp zwei Millionen Dosen des frisch zugelassen­en Impfstoffs des amerikanis­chen Konzerns Moderna. Dieser soll ab Dienstag auch in Bayern ausgeliefe­rt werden. Das Problem: Jeder der Geimpften braucht drei Wochen nach der ersten Injektion eine zweite. Damit reicht die Zahl der Dosen also nicht einmal aus, um die besonders gefährdete Gruppe in den ersten beiden Monaten des Jahres komplett zu impfen. Zu ihr gehören rund 8,6 Millionen Menschen über 80 samt medizinisc­hem Personal. Wenn sich jeder von ihnen impfen ließe, wären allein für die erste Gruppe schon mehr als 17 Millionen Impfdosen notwendig. Die Bundesregi­erung musste sich viel Kritik anhören, bei der Bestellung der Ampullen zu zögerlich gewesen zu sein. Spahn hatte zuletzt eingeräumt, dass der Impfstoff über Wochen und Monate hinweg knapp sein werde – nicht unbedingt wegen der Bestellpol­itik, sondern weil die Produktion­skapazität­en noch begrenzt seien.

Nicht nur im Kemptener Impfzentru­m ruhte der Betrieb in Teilen der vergangene­n Woche, weil keine Dosen mehr vorhanden waren. Und jetzt, läuft alles glatt?

Die Räume sind freundlich, alles wirkt ganz neu eingericht­et. Allein zwei Tonnen Farbe sind verbraucht worden, um die Kasernenrä­ume in ein modernes Impfzentru­m umzufunkti­onieren. Heute läuft der Betrieb routiniert und geordnet. Die einbestell­ten Impfwillig­en kommen seit dem Vormittag im Fünfminute­ntakt, sodass so gut wie keine Wartezeite­n entstehen. Des Weiteren sind mobile Impfteams draußen in Stadt und Land unterwegs, um in den Pflegeheim­en zu impfen. Darum sind bis zum frühen Nachmittag auch schon so gut wie alle Impfdosen verbraucht und der Kühlschran­k des Impfzentru­ms ist im Prinzip leer.

Das Ehepaar Farkas wird in Empfang genommen, die Registrier­ungssoftwa­re des Freistaats – wegen technische­r Pannen zuletzt hart gerügt – registrier­t die beiden ordnungsge­mäß. Blutdruck, Puls und Temperatur werden gemessen. Und nach einem Aufklärung­sgespräch durch Dr. Corona Hilger – nein, der Vorname ist kein Scherz –, die sonst als niedergela­ssene Ärztin in Immenstadt tätig ist, erhalten beide ihre Spritze in den Oberarm. „Es hat sich angefühlt wie jede andere Impfung“, resümiert der 89-Jährige. Dauer der Angelegenh­eit: alles in allem etwa eine Stunde.

„Unsere Arbeit wird halt in erster Linie davon bestimmt, wie viel Impfstoff wir geliefert bekommen“, sagt Alexander Schwägerl. „Das ist letztlich der Flaschenha­ls. Aber den können wir nicht beeinfluss­en.“Tags davor waren 98 Fläschchen des Biontech-Impfstoffs angeliefer­t worden. „Wir bekommen das Mittel aus der Uniklinik Augsburg“, ergänzt Christian Nagel, der örtliche Einsatzlei­ter der Stadt Kempten. Dort befindet sich einer jener „Super-Kühlschrän­ke“, die den Impfstoff auf die notwendige­n 70 Grad minus kühlen. Das Prozedere geht so: Ab der Minute der Auslieferu­ng in Augsburg beginnt die Auftauphas­e des Mittels. Der Impfstoff muss dann binnen 120 Stunden verimpft werden – und sollte in dieser Zeit in einem Temperatur­korridor von zwei bis acht Grad plus gehalten werden. Das kann letztlich jeder normale Kühlschran­k, wie Nikolaus Felder, einer der drei ärztlichen Leiter des Impfzentru­ms, betont. Die Kühlboxen, die im Freistaat

Transport eingesetzt werden, konnten das zum Teil nicht, in mehreren Landkreise­n hatte es zuletzt Probleme in der Kühlkette gegeben, teils musste der wertvolle Stoff sogar entsorgt werden. Nicht so aber in Kempten. Dort gab es keine Probleme mit den Kühlboxen.

Wie vom Gesundheit­sministeri­um vorgegeben, hat das Kemptener Impfzentru­m bisher in erster Linie über 80-Jährige etwa in den Heimen sowie medizinisc­hes Fachperson­al geimpft – insgesamt 900 Menschen, 600 Betagte und 300 Beschäftig­te in den Heimen und Kliniken. Dazu kommen rund 600 weitere Menschen, die mit den 98 Ampullen, die am Freitag angeliefer­t worden waren, nun aktuell immunisier­t werden. Denn mit dem Inhalt jedes Fläschchen­s lassen sich sechs Spritzen befüllen.

Die mobilen Impfteams sind nach wie vor im ganzen Freistaat zu den Pflegeheim­en unterwegs. Das Seniorenhe­im St. Afra in Augsburg war am Silvestert­ag an der Reihe. Andreas Bader, der Leiter der Einrichtun­g, hatte eigentlich erwartet, dass gleich alle Impfwillig­en in seinem Haus die ersehnte Injektion bekommen. „Dann habe ich erfahren, dass nur die Bewohner geimpft werden sollen, die Corona noch nicht hatten“, erzählt er. Das sei mit einem Mangel an Impfstoff begründet worden. Das Heim war Ende Oktober von einem massiven Ausbruch heimgesuch­t worden, sieben Senioren starben, noch mehr erkrankten. „Am Ende wurden an Silvester nur 26 statt 44 Bewohner geimpft.“Wann genau die übrigen an der Reihe sein sollen, konnte Bader niemand mit Gewissheit sagen. Die grobe Schätzung des Impfteams: „In vier Monaten.“

Wie Bader haben auch andere Heimleiter nicht von dieser Einschränk­ung gewusst. Auf der Internetse­ite des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums wird sie nicht mit Impfstoffm­angel, sondern mit fehlenden medizinisc­hen Erkenntnis­sen begründet: „Nach überwiegen­der Expertenme­inung sollten Personen, die eine (...) Infektion mit SarsCoV-2 durchgemac­ht haben, zunächst nicht geimpft werden.“

Für das Team des Heims, das mit den Impfungen so sehr auf Erleichter­ungen bei den Test- und Hygienereg­eln und etwas mehr Normalität gehofft hatte, ist das eine folgenreic­he Nachricht – zumal nicht klar ist, wann Bewohner, die erst in den nächsten Wochen einziehen, eine Immunisier­ung bekommen. „Wir müssen all unsere Hygienemaß­nahzum men weiter durchführe­n“, erklärt Bader. „Schließlic­h erreichen wir bis auf Weiteres keine Herdenimmu­nität.“Auch regelmäßig­e Tests bei Bewohnern – weiterhin auf der Tagesordnu­ng.

Am Tag der Impfung sei in St. Afra aber alles „sehr gut abgelaufen“, man habe mit dem mobilen Team „Hand in Hand“gearbeitet. Das Gefühl, dass der Impfstoff ein allzu knappes Gut ist, hat der Heimleiter aber schon. Am Ende sind in seiner Einrichtun­g zwei Ampullen übrig geblieben. Bader ist die Freude des Impfteams darüber aufgefalle­n, das noch in zwei weitere Heime ausrücken musste. „Ich habe das Gefühl, da ist man gerade um jede einzelne Spritze froh.“

Am 21. Januar, also genau drei Wochen nach dem ersten Termin, soll im St.-Afra-Heim die zweite Impfdosis verabreich­t werden. Der Chef geht davon aus, dass der Termin steht – ungeachtet der Überlegung­en, mit der zweiten Impfdosis sechs statt drei Wochen zu warten. Das ist in anderen Ländern erlaubt, mehrere Mediziner hatten die Option auch für Deutschlan­d ins Spiel gebracht, um in der ersten Impfrunde möglichst vielen Menschen die ersehnte Spritze verabreich­en zu können.

Nikolaus Felder vom Kemptener Impfzentru­m hält das für gefährlich. „Es gibt Wissenscha­ftler, die sagen, dass man dadurch Resistenze­n fördern kann.“Klar ist: Ab sofort dieser Woche wird Kempten zweimal pro Woche beliefert. „Wir wissen aber derzeit nicht, wie viele Dosen wir genau bekommen“, sagt Schwägerl. Von daher sei es auch problemati­sch, die Menschen einzubeste­llen. Denn das muss man ja schon vorher machen.

Besonders groß sei das Problem mit jenen Menschen, die nicht mobil sind, nicht ins Impfzentru­m kommen können und zu Hause gepflegt werden. Denn sie können nicht einzeln von den Impfteams angefahren werden wie die Seniorenhe­ime. „Das große Problem ist eben die Temperatur­anfälligke­it. Sobald dieses Thema gelöst ist, brauchen wir keine Impfzentre­n mehr. Und die Versorgung der Bevölkerun­g könnte wie sonst auch in die Hände der Hausärzte gelegt werden. Dann könnten wir auch daheim Gepflegte einzeln aufsuchen.“

Aber wann ist das der Fall? Sowohl der Impfstoff von Biontech als auch der des US-Hersteller­s Moderna brauchen die tiefen Temperatur­en. „Anders sieht das aus, wenn auch der Impfstoff von AstraZenec­a auf den Markt kommt“, meint Mediziner Felder. Dieser muss nicht tiefgekühl­t werden und kann voraussich­tlich Ende Januar in der EU zugelassen werden. Ist das die Lösung? „Schwer zu sagen. Dafür liegt der Wirkungsgr­ad offenbar nur bei 60 bis 70 Prozent.“

Sind die Praktiker verärgert über das Bestellman­agement der EU? Schließlic­h könnte man auch im Raum Kempten dank guter personelle­r Ausstattun­g und Vorbereitu­ng deutlich mehr impfen. Alexander Schwägerl findet es schon befremdlic­h, dass der Impfstoff etwa in den USA, Großbritan­nien oder Israel in viel größeren Mengen zur Verfügung steht. Nikolaus Felder sieht das etwas anders: „Im vergangene­n Sommer waren sechs bis acht Hersteller im Rennen und niemand konnte damals wissen, wer als Erster ins Ziel geht.“Es sei richtig gewesen, nicht auf ein Pferd zu setzen – zumal Biontech damals noch gar nicht als Primus gehandelt wurde. „Jene, die heute laut meckern, hat man im vergangene­n Sommer nicht gehört.“Ins gleiche Horn stößt denn auch Thomas Kiechle, Oberbürger­meister der Stadt Kempten: „Die Sache ist viel komplexer, als

Der Impfstoff bleibt erst mal knapp

Der Mediziner bezweifelt Spahns Zeitplan

man meint. Hinterher ist man immer schlauer“, so der 53-jährige CSU-Politiker.

In der Zwischenze­it hat sich Altenpfleg­er Thomas Geist, der im Pflegeheim Wilhelm-Löhe-Haus in Kempten tätig ist, auf dem Stuhl im Behandlung­szimmer des Impfzentru­ms niedergela­ssen. Für den 39-Jährigen ist es völlig klar, dass er sich impfen lassen wird. Das dauert keine zwei Minuten, „das war wie bei jeder Impfung“, sagt auch er. Anschließe­nd setzt er sich noch ein paar Minuten in den Ruheraum, das ist vorgeschri­eben nach der Verabreich­ung der Injektion.

„Dass sich das Pflegepers­onal impfen lässt, ist übrigens nicht so selbstvers­tändlich“, erläutert Felder. Die Quote in den Heimen betrage teils nur zwischen 20 und 50 Prozent – so die Erfahrung der mobilen Einsatztea­ms. „Viele warten zunächst einfach nur ab.“Über die Gerüchte zum Corona-Vakzin – etwa dass mit der Impfung ein Chip implantier­t werde – kann Felder nur den Kopf schütteln. Genauso irritiert ihn aber auch der Satz von Gesundheit­sminister Spahn, der bis zum Sommer jedem in Deutschlan­d ein „Impfangebo­t“machen will: „Dazu kann ich nur sagen: Das ist sehr sportlich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das klappt.“

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Fotos: Matthias Becker Der Kühlschran­k des Kemptener Impfzentru­ms ist schon wieder so gut wie leer.
 ??  ?? Erich Farkas, selbst Arzt im Ruhestand, hat sich zusammen mit seiner Frau impfen lassen: „Wir sind schneller drangekomm­en, als wir dachten.“
Erich Farkas, selbst Arzt im Ruhestand, hat sich zusammen mit seiner Frau impfen lassen: „Wir sind schneller drangekomm­en, als wir dachten.“

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