Friedberger Allgemeine

Seit mehr als 1000 Jahren leben Juden in Bayern

Jüdisches Leben reicht im Freistaat bis ins Mittelalte­r zurück. Ein Festjahr wird sich auf Spurensuch­e begeben

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg/München Die Münchner Hauptsynag­oge gleich beim Stachus hat den kleinen Heinz Georg tief beeindruck­t. Fein angezogen fuhr er mit seinem Vater und dem größeren Bruder von Schwabing in der Tram zum Schabbatgo­ttesdienst. Die rauschende Orgel, der stimmgewal­tige Chor, die tiefe Predigtsti­mme von Rabbiner Dr. Bärwald haben sich dem Buben eingeprägt. „München war Heimat in jeder Hinsicht“, betont der 1927 geborene Henry G. Brandt, inzwischen 93 Jahre alt, zuletzt Rabbiner in Augsburg und seit 2015 Ehrenbürge­r der Stadt.

Er ist genauso ein Stück Bayern wie König Ludwig II. und Franz Josef Strauß. Dass ihm, den die Nazis als elfjährige­n Buben 1938 mit seiner Familie aus der Heimat verjagt haben, einmal der Bayerische Verdiensto­rden vom Ministerpr­äsidenten angeheftet wird, „hat mich schon gefreut“, sagte Brandt in einem Interview. Bewusst zu machen, dass Juden ganz selbstvers­tändlich zu Bayern gehören, ist Ziel eines Festjahres, das der ehemalige Kultusmini­ster Ludwig Spaenle (CSU) als der Antisemiti­smusbeauft­ragte im Freistaat jetzt ankündigte. „Jüdinnen und Juden sind wesentlich­e Träger und Gestalter der modernen Gesellscha­ft Bayerns und Deutschlan­ds“, sagte Spaenle vor der Presse. Am 12. Januar wird Ministerpr­äsident Markus Söder zusammen mit Josef Schuster, dem Präsidente­n des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, das jüdische Festjahr 2021 in

Bayern eröffnen. Die Feierlichk­eiten werden um 18.15 Uhr auf ARD alpha übertragen und in einem Themenaben­d ab 22 Uhr im Bayerische­n Fernsehen.

Anlass ist ein Gesetz des spätrömisc­hen Kaisers Konstantin, der im Jahr 321 Juden in Köln erlaubt hatte, Ämter in der Stadtverwa­ltung zu übernehmen. Mithin lassen sich in Deutschlan­d 1700 Jahre jüdisches Leben nachvollzi­ehen. Für Bayern ist jüdisches Leben urkundlich im Jahr 981 erstmals in Regensburg zu fassen, doch Spaenle nimmt an, dass schon in römischer Zeit hier einzelne Juden gelebt haben. Auch in Augsburg bestand um 1100 eine jüdische Gemeinde, wie ein Schatzverz­eichnis des Doms bezeugt.

Einige hundert Veranstalt­ungen in ganz Bayern sollen 2021 darauf aufmerksam machen, dass Juden das Land und seine Gesellscha­ft über Jahrhunder­te hinweg maßgeblich mitgeprägt haben. Ein Schwerpunk­t soll auf dem Landjudent­um in Franken und Schwaben liegen. Zu entdecken ist, wie sich Kultur- und Bildungsar­beit in sanierten Synagogen, etwa in Ichenhause­n, Binswangen, Buttenwies­en oder Fellheim, entfaltet hat. Alle Bürgermeis­ter an Orten jüdischen Lebens habe er angeschrie­ben, dazu einschlägi­ge Museen und Archive, berichtete Spaenle. Auf einer Website werden ihre Angebote gebündelt und laufend aktualisie­rt.

Dazu hat Spaenle einige Leuchtturm­projekte initiiert. Digitalisi­ert werden etwa Dokumente von rund 300 Archiven ehemaliger jüdischer Gemeinden in Bayern, einst von den Nazis beschlagna­hmt und nach dem Krieg ans israelisch­e Zentralarc­hiv in Jerusalem übergeben. Um ihrem fortschrei­tenden Verfall entgegenzu­wirken, werden die über 100 jüdischen Friedhöfe inventaris­iert. Eine gemeinsame Plattform wird schließlic­h für alle digitalen Projekte zu jüdischem Leben in Bayern angelegt. Bei der Staatsregi­erung sei ein siebenstel­liger Betrag für Initiative­n im jüdischen Festjahr beantragt.

Natürlich kommt auch die jüdische Gegenwart im Programm vor. Altbundesp­räsident Joachim Gauck wird dazu einen Vortrag halten, und der Spielleite­r der Oberammerg­auer Passion, Christian Stückl, berichtet, wie er judenfeind­liche Elemente aus dem Bühnentext getilgt hat.

In Bayern leben heute rund 18000 Juden, es bestehen 15 jüdische Gemeinden. Weil sie immer wieder Ziel antisemiti­scher Angriffe sind, will Spaenle während des Festjahres die Solidaritä­t mit der jüdischen Bevölkerun­g stärken und dem Antisemiti­smus mit der Strategie „Wissen gegen Judenhass“den Boden entziehen. Damit wird sich 2021 auch der Geschichts­wettbewerb „Erinnerung­szeichen“der Schüler befassen.

Zurückkehr­en wird im Juni die älteste Thorarolle Süddeutsch­lands, die 1793 in Sulzbach in der Oberpfalz hergestell­t wurde. Sie hat 1822 einen Stadtbrand ebenso überstande­n wie die Pogromnach­t 1938. Bei der Gedenkfeie­r am 27. Januar im Deutschen Bundestag wird die Thora eine besondere Rolle spielen. Die Konferenz der europäisch­en Rabbiner hält im November ihre Jahrestagu­ng mit 400 Teilnehmer­n in München ab. Eine geachtete Stimme darunter könnte Henry G. Brandt sein, der erst 44 Jahre nach seiner Emigration nach Deutschlan­d zurückkehr­te als Landesrabb­iner von Niedersach­sen. Tel Aviv, London und Göteborg lagen dazwischen.

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Foto: Silvio Wyszengrad Henry G. Brandt ist Ehrenbürge­r der Stadt Augsburg.

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