Friedberger Allgemeine

Statt Kinderglüc­k plötzlich ein Trauma fürs Leben

„Pieces of a Woman“erzählt von einer Frau, deren Baby bei der Geburt stirbt – ein schauspiel­erisches Ereignis

- VON MARTIN SCHWICKERT

Das Gitterbett steht bereit. Davor ein Schaukelst­uhl. Darüber in einem Rahmen die letzten Ultraschal­laufnahmen. Das Nest ist gebaut. Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf) erwarten voller Freude ihr erstes Kind und sind vorbereite­t. Sie haben sich für eine Hausgeburt entschiede­n. Als die Wehen einsetzen, wird Martha von den Schmerzen überrollt. Sean heitert sie mit schlechten Witzen auf. Für einen kurzen Moment des Glücks halten die Eltern ihr Baby in den Armen, bis die Hebamme merkt, dass der Säugling um Atem ringt.

Fast eine halbe Stunde dauert diese dramatisch­e Eingangsse­quenz in „Pieces of a Woman“(auf Netflix), die ohne Schnitt den kulminiere­nden Ereignisse­n während der Geburt folgt. Die Szene braucht keine reißerisch­en Effekte, aber sie stellt eine unmittelba­re Nähe zu Martha her, die der Film auch danach nicht aufgibt. Der Tod eines neugeboren­en Kindes ist ein Verlust, der mit nichts zu vergleiche­n ist. Es gibt keine tröstenden Erinnerung­en, an denen man sich festhalten könnte. Nur die schmerzend­e Leere eines ungelebten Lebens und eine elterliche Liebe, die grausam unerfüllt bleibt.

„Pieces of a Woman“von Kornél Mundruczó und Kata Wéber zeigt, wie eine solche Erfahrung das Leben für immer verändert. Auf vollkommen verschiede­ne Weise gehen Martha und Sean mit dieser unfassbare­n Trauer um. Während er den Schmerz nach außen kehrt und nach sechs Jahren Trockenhei­t wieder mit dem Trinken anfängt, scheint sich Martha in ihre Gefühle einzumauer­n. Die übergriffi­ge Mutter (Ellen Burstyn) drängt sie zu tun, was man in Amerika im Fall einer Katastroph­e tut: einen Schuldigen finden und verklagen. Fünf Jahre Haft drohen der Hebamme. Aber damit will Martha nichts zu tun haben. Mit einer Mischung aus Verstörung und Sturheit sucht sie in sich nach einem eigenen Weg im Umgang mit dem Trauma.

„Pieces of a Woman“folgt diesen Suchbewegu­ngen mit ungeteilte­r Aufmerksam­keit. Der Blick ist nicht von Mitleid, sondern von tiefer Empathie gekennzeic­hnet, die nicht alles erklären muss, um es spürbar zu machen. Ohne jeden Anflug von Overacting spielt Vanessa Kirby („The Crown“), die beim diesjährig­en Festival in Venedig zu Recht als beste Darsteller­in ausgezeich­net wurde, die Schmerzen ihrer Figur genauso überzeugen­d wie die seelischen Taubheitsg­efühle. Ihre Performanc­e ist ein Ereignis – gerade weil sich in ihr ein tiefer Respekt vor Menschen offenbart, die ähnliches tatsächlic­h erleben müssen.

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Foto: Netflix Herausrage­nd: Vanessa Kirby in „Pieces of a Woman“.

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