Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (26)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
Ich bin auf dem Weg zu meiner Tochter, um den Silvesterabend bei ihr zu verbringen, habe mich aber verirrt und fürchte, ich muß die ganze Nacht auf der Landstraße umherwandern, wenn du mir nicht hilfst.“
„Nein, darum sollt Ihr mich nicht bitten,“versetzte der Fuhrmann. „Es ist immer noch besser für Euch, Ihr geht auf der Landstraße weiter, als daß Ihr in meinem Karren fahrt.“
„Ja, da muß ich dir recht geben,“sagte die Alte. „Dein Pferd würde sicher zusammenbrechen, wenn es mich auch noch ziehen müßte. Aber mein Bündel will ich hier hinten hineinlegen, so viel könntest du mir doch helfen.“
Ohne eine Erlaubnis abzuwarten, hob sie ihr Bündel auf und legte es in den Karren hinein. Aber wie wenn sie es auf wallenden Rauch oder wogenden Nebel gesetzt hätte, sank es ohne den geringsten Widerstand auf die Erde herab.
Zugleich mußte indes die Alte die Kraft verloren haben, den Karren zu sehen, denn sie blieb ratlos und zitternd auf dem Weg stehen, ohne noch einen Versuch zu machen, mit dem Fuhrmann zu reden.
Diese Unterhaltung flößte David Holm abermals ein wenig Mitleid mit Georg ein.
,Er hat gewiß allerhand durchmachen müssen,‘ denkt er. ,Ich kann mich nicht mehr darüber wundern, daß er sich verändert hat.‘
Der Fuhrmann hat David Holm in ein Gemach mit hohen, aber vergitterten Fenstern und kahlen, hellen Wänden ohne den geringsten Schmuck geführt. Mehrere Betten stehen an den Wänden, von denen aber nur eines besetzt ist. Ein schwacher Arzneigeruch schlägt David Holm entgegen, ein Mann in der Uniform eines Gefangenenwärters sitzt neben dem Bett, und David Holm begreift, daß er in das Krankenzimmer eines Gefängnisses gekommen ist. An der Decke brennt eine kleine elektrische Lampe, und bei deren Schein sieht David Holm in dem einen Bett einen jungen kranken Menschen mit einem schönen, aber abgezehrten Gesicht. Aber kaum hat er einen Blick auf den Gefangenen geworfen, als er auch schon vergißt, daß er vorhin milder gegen Georg gestimmt gewesen war, und er ist auf dem Punkt, sich mit der vorigen Wut auf Georg zu stürzen.
„Was hast du hier zu tun?“bricht er los. „Wenn du dem, der da in dem Bett liegt, etwas zuleid tust, dann sind wir Feinde für ewige Zeiten, das laß dir gesagt sein!“
Der Fuhrmann sieht David Holm mit einem Blick an, der eher mitleidsvoll als strafend ist.
„Ich begreife nun, wer es ist, der da liegt, David; aber ich hab’ es nicht gewußt, als wir herfuhren.“
„Ob du es gewußt hast oder nicht, ist ganz einerlei, Georg, wenn du nur begreifst.“Doch jäh bricht er ab, Georg hat nur eine befehlende Bewegung mit der Hand gemacht, und David Holm versinkt, von einer unwiderstehlichen Angst bezwungen, in Schweigen.
„Für uns beide gibt’s nichts anderes als Unterwerfung und Gehorsam,“sagt der Fuhrmann. „Du hast nichts zu wünschen oder zu verlangen, sondern nur ruhig auf Aufklärung zu warten.“Damit zieht Georg seine Kapuze tief übers Gesicht herein, zum Zeichen, daß er vorderhand kein Wort mehr wechseln will, und in der nun eintretenden Stille hört David Holm, daß der kranke Gefangene mit seinem Wärter zu reden angefangen hat.
„Herr Aufseher, glauben Sie, daß ich wieder recht werden kann?“fragt er mit einer schwachen, aber durchaus nicht mutlosen oder traurigen Stimme.
„Ei freilich, freilich können Sie das, Holm,“sagt der Aufseher freundlich, obgleich mit etwas unsicherem Ton. „Sie müssen sich nur ein wenig erholen und das Fieber überwinden.“
„Sie wissen wohl, daß ich nicht an das Fieber gedacht habe,“erwidert der Kranke. „Ich meine, ob Sie, Herr Aufseher, meinen, ich könne wieder heraufkommen. Das ist nicht so leicht, wenn man wegen Totschlag im Gefängnis gesessen hat.“
„Es wird schon gehen, Holm, da Sie jemand haben, zu dem Sie gehen können,“antwortet der Aufseher. „Sie haben mir wenigstens gesagt, Sie wüßten einen Ort, wo Sie aufgenommen würden.“
Ein schönes Lächeln fliegt über das Gesicht des Kranken.
„Wie hat mich der Herr Doktor heute abend gefunden?“fragt er dann.
„Keine Gefahr, Holm, keine Gefahr! Der Doktor sagt immer das Gleiche. ,Wenn ich ihn nur außerhalb dieser Mauern hätte, dann würde ich ihn bald wieder auf die Beine bringen,‘ sagt er.“Der Gefangene dehnt die Brust und zieht die Luft durch die Zähne ein.
„Außerhalb dieser Mauern, ja,“murmelt er leise vor sich hin.
„Ich wiederhole nur, was der Doktor zu mir zu sagen pflegt,“fährt der Aufseher fort. „Aber Sie dürfen das nicht so genau nehmen, Holm, damit Sie uns nicht wieder auf und davon gehen wie im Herbst vor einem Jahr. Dadurch ziehen Sie es nur selbst in die Länge, verstehen Sie, Holm?“
„O, Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Aufseher. Ich bin jetzt viel klüger als damals. Jetzt bin ich nur noch darauf aus, bald von hier entlassen zu werden. Und nachher fange ich ein neues Leben an.“
„Ja, da haben Sie recht, Holm, es wird ein neues Leben für Sie werden,“sagt der Wächter mit einem etwas feierlichen Ton.
David Holm sitzt dabei und ängstigt sich mehr als der Kranke.
„Er ist hier im Gefängnis angesteckt worden,“murmelt er, während er den Körper angstvoll hin und her wiegt. „Und jetzt ist er hoffnungslos zugrunde gerichtet, er, der so schön und stark und so froh war!“
„Herr Aufseher, haben Sie nicht…“fängt der Kranke wieder an; da er aber in demselben Augenblick eine leichte Bewegung der Ungeduld bei seinem Wärter wahrnimmt, fragt er hastig: „Vielleicht ist es gegen die Vorschrift, wenn ich rede?“
„Nein, nein, heute nacht dürfen Sie reden, so viel Sie wollen, Holm.“
„Heute nacht…“wiederholt der Kranke nachdenklich. „Jaso, vielleicht weil es Neujahrsnacht ist.“
„Ja,“antwortet der Aufseher. „Ja, weil ein gutes neues Jahr für Sie beginnt, Holm.“
„Der Mann da weiß, daß er heute nacht sterben wird,“klagt in seiner Machtlosigkeit der Bruder des kranken Gefangenen. „Das ist der Grund, warum er so freundlich gegen ihn ist.“
„Herr Aufseher, haben Sie nicht seit jener Flucht eine Veränderung an mir wahrgenommen?“nimmt der Kranke die vorhin unterbrochene Frage wieder auf. „Sie haben doch seither keine Mühe mehr mit mir gehabt, nicht wahr, Herr Aufseher?“„Ganz recht, Sie sind seither so folgsam wie ein Lamm gewesen, und ich habe gar keinen Grund gehabt, unzufrieden mit Ihnen zu sein. Aber ich rate Ihnen aufs neue, tun Sie das nicht noch einmal.“
Der Kranke lächelt.