Kühbacher schenkt Bub ein zweites Leben
Medizin Jim Wood aus England war todkrank. Die Ärzte gaben ihm nicht mehr viel Zeit. Dann spendete Stefan Koppold Knochenmark
Kühbach Die Ärzte hatten den Buben schon fast aufgegeben. Seit er fünf Jahre alt war, litt Jim an einer seltenen Autoimmunerkrankung, die ihm unerträgliche Schmerzen bereitete. Mit 14 hatte er mit seinem Leben abgeschlossen: Er plante seine Beerdigung und verabschiedete sich von seinen beiden Geschwistern. Doch es gab eine letzte Option.
Die Mediziner rieten zu einer Knochenmarkspende. Über Ländergrenzen hinweg wurde nach einem Spender gesucht. Er fand sich in Kühbach. Das war 2018. Stefan Koppold wusste damals nichts von Jim und seinem Schicksal. Über 20 Jahre vorher hatte der Fertigungsplaner für Bauteile für Flugzeugturbinen sich bei der DKMS als potenzieller Stammzellenspender registrieren lassen, als ein Arbeitskollege an Leukämie erkrankt war.
Schließlich erfuhr er, dass er möglicherweise als Spender geeignet wäre. Beim Hausarzt wurde ihm Blut abgenommen. Es folgte ein Tag in einer Nürnberger Klinik mit vielen weiteren Untersuchungen. Und schließlich: der Anruf, dass er als Spender in Frage kam. Da versuchte Koppold gerade, sich zu sammeln. Denn unmittelbar vorher hatte seine Frau Melanie ihm erzählt, dass das dritte Kind unterwegs war. „Ich bin mit der Situation völlig überfordert gewesen“, sagt Koppold und lacht.
Für den 40-Jährigen, früher Trainer der ersten Fußball-Mannschaft des TSV Kühbach, war es selbstverständlich zu helfen. Er war zu allem bereit. Auch, als es hieß, dass eine Stammzellenspende per Blutabnahme in diesem Fall nicht reichen würde, sondern dass unter Vollnarkose Knochenmark aus dem Beckenkamm entnommen werden müsste. Auch seine Frau, eine gelernte Arzthelferin, habe ihn dabei unterstützt. Für ihn sei das alles keine große Sache gewesen.
Für Jim Wood und seine Familie in England schon. Am 31. Oktober 2018 wurde Stefan Koppold operiert. Am Tag darauf erhielt Jim, der heute 16 Jahre alt ist und in Derbyshire südöstlich von Manchester lebt, das rettende Knochenmark. Seitdem feiern er und seine Familie den 1. November wie einen zweiten Geburtstag. Seinen eigentlichen Geburtstag hat Jim Mitte Juni – genau wie Koppold. Auch sonst hat der Kühbacher mehrere Gemeinsamkeiten mit Jim entdeckt: Beide sind Fußballfans, beide garteln gerne. Noch haben sie sich nicht getroffen. Corona machte das bislang unmöglich. Doch seit wenigen Monaten haben die Familien Kontakt. Die Gesetze schrieben vor, dass sie in den ersten zwei Jahren nach der lebensrettenden OP nur wenig übereinander wissen durften. Koppold dachte in dieser Zeit immer wieder darüber nach, wie es wohl dem Teenager aus Großbritannien ging, der ihm als Empfänger genannt worden war. „Ich wollte nicht nachfragen. Ich dachte mir: Was ist, wenn er gestorben ist? Will ich das wissen?“
Doch Jim kämpfte. Und er schaffte es. Allen Schwierigkeiten auch in den Monaten nach dem Eingriff zum Trotz. Kaum war das Ende der gesetzlich vorgeschriebenen Zwei-Jahres-Frist in Sicht, nahm seine Mutter über die DKMS Kontakt zu Stefan Koppold auf. Obwohl er sich sehr überlegt für die Knochenmarkspende entschieden hatte, sagt er: Erst als die Familie mit ihm Kontakt aufgenommen habe, sei ihm bewusst geworden, was die für ihn so selbstverständliche Entscheidung für Jims Familie bedeutete – ein neues Leben.
Auf Koppolds Facebook-Seite ist ein von der BBC gedrehtes Video zu sehen. Darin erzählt Jim von seiner Kindheit und Jugend. Im Alter von nur fünf Jahren erhielt er die niederschmetternde Diagnose. In den folgenden Jahren verschlechterte sich sein Zustand. Die Autoimmunerkrankung äußerte sich in Geschwüren und Wunden am ganzen Körper und sogar im Mund. Furchtbare Schmerzen waren die Folge. Jim verbrachte nie ein komplettes Jahr in der Schule. Während seine Freunde draußen spielten, musste er daheim bleiben.
Irgendwann war er am Ende mit seiner Kraft. Er bat seine Mutter, die Ärzte sollten ihm keine Medikamente mehr geben. Seine Mama erzählt in dem Video von diesem erschütternden Moment. Als letzten Ausweg brachten die Ärzte die Knochenmarkspende ins Spiel. Stefan Koppold sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, was das für eine Mutter bedeutet, wenn ihr Kind sagt: Ich will sterben.“Gerade der Gedanke an seine eigenen Kinder habe ihn vor zwei Jahren motiviert zu helfen: „Ich habe mir immer vorgestellt: Was ist, wenn ich oder meine Familie Hilfe brauchen würden?“
Stefan Koppold war nach der OP zunächst etwas schwach, wie er sagt. Schmerzen habe er nicht gehabt. Aber „das Ganze fühlte sich an wie ein sehr ausgeprägter Muskelkater“. Während er in den darauffolgenden Monaten immer wieder darüber nachdachte, wie es „seinem“damals noch unbekannten Empfänger wohl geht, kreisten die Gedanken von Jim und seiner Familie um den Spender: Hat er alles gut überstanden? Ist er an einer Kontaktaufnahme interessiert? Als der Kontakt schließlich per E-Mail und via Internet zustande kam, stellten beide Familien fest, dass ihnen sehr ähnliche Fragen durch den Kopf gingen.
Koppold beschreibt die Woods als „ganz herzliche, sympathische Familie“. Die gesamte Familie inklusive Onkeln und Tanten habe ihm schon geschrieben. Ihm ist die große Dankbarkeit „ein bisschen unangenehm“, wie er sagt. „Das war doch selbstverständlich.“Dennoch erzählt er seine Geschichte. Jim und er wollen anderen Menschen zeigen: „Man kann mit so wenig so viel Gutes tun. Jeder hat die Chance, jemandem zu helfen.“All das habe auch seinen Blick auf das Leben verändert, so Koppold. „Man regt sich über so viele Kleinigkeiten auf.“Dabei sei es viel wichtiger, dass zum Beispiel die Kinder gesund seien.
Jim sieht noch immer jünger aus, als er ist. Nach wie vor ist er in ärztlicher Behandlung. Aber er ergreift sein neues Leben mit beiden Händen. Er hat eine Liste mit allem geschrieben, was er machen will. Koppold erzählt: „Fallschirmspringen war er schon.“Ein geplanter Hubschrauberflug fiel coronabedingt aus. Sobald es die Umstände zulassen, wollen er und Jim sich persönlich treffen. Koppold freut sich riesig darauf. Gleichzeitig hat er ein bisschen Lampenfieber. Dabei brachte es Jims Mutter auf einen ganz einfachen Nenner, als sie zu Koppold sagte: „Jetzt hast du dreieinhalb Kinder.“