Friedberger Allgemeine

Letzte Chance für AstraZenec­a

Erst nur unter 65, dann nur über 60: Nicht nur die Nebenwirku­ngen, sondern auch der Umgang mit dem umstritten­en Impfstoff lösen massive Verunsiche­rung aus. Dabei könnte er schon bald eine sehr wichtige Rolle spielen

- VON MICHAEL POHL

Berlin Zumindest CDU-Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn dürfte diese Woche aufgeatmet haben. Seine noch vor knapp zwei Wochen umstritten­e Entscheidu­ng, die Impfungen mit dem Mittel von AstraZenec­a wegen seltener, aber schwerwieg­ender Nebenwirku­ngen vorübergeh­end auszusetze­n, erwies sich im Nachhinein im Urteil der Experten als richtig. Das ist aber fast die einzige Klarheit, die es in dem Hin und Her um den Impfstoff gibt.

In der Bevölkerun­g kam Ende Januar die Nachricht an, AstraZenec­a sei nichts für über 65-Jährige. Und acht Wochen später heißt es, AstraZenec­a soll es nur noch für über 60-Jährige geben. Obendrein schien zwei Wochen unklar, ob die seltenen, aber gefährlich­en Nebenwirku­ngen überhaupt noch eine Rolle spielen. Denn nach der Entscheidu­ng der europäisch­en Arzneimitt­elagentur EMA verbreitet­e sich der Eindruck, man ändere den Beipackzet­tel um Risiken und Nebenwirku­ngen. Aber sonst überwiege der Nutzen, erklärten die europäisch­en Arzneimitt­el-Aufseher lapidar.

Währenddes­sen machten immer neue Todesfälle Schlagzeil­en, wie der einer Allgäuer Krankensch­wester, die einer Gehirnvene­nthrombose drei Wochen nach der Impfung erlag. Auch die Zahl der glimpflich­er ausgegange­nen Nebenwirku­n

summierte sich Tag für Tag auf über 30. Dass aber die Ständige Impfkommis­sion und das für Impfmittel­sicherheit zuständige PaulEhrlic­h-Institut tatsächlic­h die Fälle der Sinusvenen­thrombosen laufend untersucht­en, war bis zum Wochenende allenfalls in Fachkreise­n bekannt, während in der Bevölkerun­g die Zweifel wuchsen, insbesonde­re bei geimpften jungen Frauen in medizinisc­hen Berufen.

Nun hat angesichts dieser Kommunikat­ionspoliti­k ausgerechn­et nach der Klärung der tatsächlic­hen Risiken des AstraZenec­a-Impfstoffs die Verunsiche­rung einen Höhepunkt erreicht. Doch angesichts der immer schneller durch die hochanstec­kende britische Virusvaria­nte anrollende­n dritten Welle halten Experten die von April bis Juni erwarteten fast 17 Millionen Dosen AstraZenec­a für unverzicht­bar. Zuletzt hat sich die Sieben-Tage-Inzidenz binnen drei Wochen von 70 auf 140 in Deutschlan­d verdoppelt. Die Zahl der Intensivpa­tienten steigt ebenfalls trotz Zeitverzög­erung steil an. Dort versterben inzwischen jeden einzelnen Tag über hundert Corona-Schwerkran­ke. Den höchsten Anteil unter den Patienten macht laut Robert-Koch-Institut derzeit die Altersgrup­pe der 60- bis 79-Jährigen aus.

Genau diese Altersgrup­pe könnte nun mit den verfügbare­n AstraZenec­a Impfdosen eine schnellere

Erstimpfun­g erhalten. Bei den über 60-Jährigen ist das Risiko einer Hirnvenent­hrombose generell geringer, aber auch die Nebenwirku­ngen des Impfstoffs. In Großbritan­nien sind die meisten der über 60 Jahre alten Briten zum Großteil mit AstraZenec­a geimpft worden, ohne dass dort mehr gefährlich­e Thrombosen auftraten als im Durchschni­tt der Jahre vor Corona.

Dies könnte laut Immunexper­ten damit zu tun haben, dass die Nebenwirku­ng des AstraZenec­a-Impfstoffs höchstwahr­scheinlich eine Überreakti­on des Immunsyste­ms ist, das jedoch mit zunehmende­n Algen ter bei Frauen und Männern an Kraft verliert. Generell ist das Immunsyste­m bei Frauen von Natur aus stärker ausgeprägt als bei Männern. Das ist für Wissenscha­ftler die Erklärung, warum Frauen insgesamt von schwachen wie starken Nebenwirku­ngen der Impfungen häufiger betroffen sind als Männer. Das gilt nicht nur für AstraZenec­a, sondern auch für die Mittel von Biontech und Moderna.

Laut Paul-Ehrlich-Institut treten zwischen 73 und 84 Prozent der Nebenwirku­ngen bei Frauen auf. Das ist nur zum Teil darin begründet, dass zwei Drittel aller Geimpften

weiblich sind. AstraZenec­a hat entgegen seinem angekratzt­en Ruf dabei sogar Vorteile: Der britischsc­hwedische Impfstoff verzeichne­t laut Paul-Ehrlich-Institut eine bessere Nebenwirku­ngsbilanz als Biontech und Moderna: Bei AstraZenec­a sind 95,4 Prozent der gemeldeten Nebenwirku­ngen harmlos, bei Biontech und Moderna nur 85 Prozent. Zudem hat sich in Großbritan­nien herausgest­ellt, dass die Erstimpfun­g mit AstraZenec­a noch besser vor Krankenhau­saufenthal­ten schützt als bei Biontech.

Insofern könnte der umstritten­e Impfstoff als schneller Helfer gegen die dritte Welle für die besonders gefährdete­n über 60-Jährigen noch eine Chance haben. Um der Verunsiche­rung der Betroffene­n zu begegnen, fordert der FDP-Gesundheit­sexperte und Würzburger Medizinpro­fessor Andrew Ullmann nun von CDU-Gesundheit­sminister Spahn endlich eine Aufklärung­skampagne, die diesen Namen verdiene: „Die Bundesregi­erung steht jetzt am Wendepunkt ihrer Corona-Impfkampag­ne“, betont Ullmann. „Die nächsten Wochen werden wahrschein­lich über Erfolg und Misserfolg entscheide­n“, warnt er. „Deshalb muss die Aufklärung­skampagne der Bundesregi­erung informativ­er und zielgenaue­r werden. Das ist entscheide­nd für das Vertrauen unserer Bürgerinne­n und Bürger in eine Impfung.“

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Foto: Nicolas Armer, dpa Umstritten­er Impfstoff „Vaxzevria“von AstraZenec­a: In den kommenden drei Monaten erwartet Deutschlan­d fast 17 Millionen Dosen des britisch‰schwedisch­en Hersteller­s.

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