Friedberger Allgemeine

Lassen sich Erwachsene noch erziehen?

Münchner Bildungsfo­rscher wollen herausfind­en, wann Corona-Maßnahmen akzeptiert werden. Was das mit dem Gekritzel auf Schultoile­tten zu tun hat, erklärt der Studienlei­ter

- VON VANESSA POLEDNIA

München Bundeskanz­lerin Angela Merkel trägt ein viel zu großes schwarzes Sakko, der düstere Raum, in dem sie steht, ist nur spärlich belichtet. Über ihrem Kopf steht in weißen Großbuchst­aben „Sie dachten, dass Sie am Gründonner­stag einen freien Tag haben werden? Da muss ich Sie enttäusche­n. Das haben wir frei erfunden“. Das Foto ist natürlich nicht echt. Es handelt sich um ein sogenannte­s Meme, ein Scherzbild, das eine aktuelle Fehlentsch­eidung der deutschen Regierung aufs Korn nimmt. Merkels Kopf wurde dabei auf den Körper von Jonathan Frakes, Moderator der US-amerikanis­chen Serie „X-Factor: Das Unfassbare“platziert. In jeder Folge dieser Sendung wurden mysteriöse Geschichte­n gezeigt, die jeweils entweder an wahre Begebenhei­ten angelehnt sind oder von den Autoren der Serie frei erfunden wurden. Das hat der Macher dieses Memes auf die Politik umgemünzt. Viele solcher humorigen bis zynischen Bildchen und Videos wurden seit Beginn der CoronaPand­emie versendet.

Für Professor Burkhard Schäffer vom Institut für Bildungswi­ssenschaft der Universitä­t der Bundeswehr München sind diese Memes – abgewandel­t vom altgriechi­schen Wort für nachgeahmt­e Dinge – mehr als nur ein kleiner Zeitvertre­ib. Sie sind Teil einer Studie, die nun zum 1. April offiziell startet. In

Kooperatio­n mit der HelmutSchm­idt-Universitä­t Hamburg wollen die Wissenscha­ftler herausfind­en, wie Regierende und Experten in Pandemieze­iten versuchen, die Bürger zu erziehen – und wie die Bevölkerun­g auf diese Erziehungs­versuche reagiert. Sprich: Wie müssen Politiker zum Beispiel vorgehen, damit die Menschen in Deutschlan­d durch eine Impfung zur Immunisier­ung beitragen, sich testen lassen oder einfach auch an die AHA-Regeln halten – das heißt: Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen.

Laut Schäffer sei diese Beobachtun­g fast schon revolution­är, wenn man bedenke, dass in der Erwachsene­nbildung kaum von Erziehung gesprochen wird. Denn Erwachsene zu erziehen sei verpönt. Wer beide Begriffe zusammen in eine Internetsu­chmaschine eingebe, erhalte eher Angebote für sexuelle Dienstleis­tungen als für bildungswi­ssenschaft­liche Inhalte, so Schäffer. Doch nichts anderes, als ihre Bürger zu erziehen, versuchten demokratis­ch gewählte Regierunge­n während der Corona-Pandemie: Sie wollen, dass die Bevölkerun­g Entscheidu­ngen nachvollzi­eht, mitträgt und ihr Verhalten daran anpasst.

„Das muss man doch untersuche­n können“, dachte sich der Bildungswi­ssenschaft­ler, der gemeinsam mit Kollegin Denise Klinge und dem Hamburger Professor Arnd-Michael Nohl einen Förderungs­antrag bei der VW-Stiftung stellte. „Es gingen damals über 1000 Anträge ein. Wir machten uns kaum Hoffnungen“, erinnert sich Schäffer. Dass ihre Studie ausgewählt wurde, mache das Team stolz.

Vier Aspekte werden in München und Hamburg ab April für eineinhalb Jahre aus erziehungs­wissenscha­ftlicher Sicht erforscht: Auf der ersten Ebene werden Reden von Politikern an die Bevölkerun­g analysiert und verglichen. Als Beispiel nennt Schäffer Angela Merkels Fernsehans­prache vom 18. März 2020 – kurz bevor der erste CoronaLock­down in Kraft trat. Die Forscher fragen sich dabei, welche pädagogisc­hen Elemente – wie Ermahnunge­n, Ermutigung­en oder Strafandro­hungen – sich aus dem Gesagten ableiten lassen. Während zum Beispiel die deutsche Kanzlerin ihre Rede mit „Liebe Mitbürgeri­nnen, liebe Mitbürger“sehr inklusiv beginnt, sprach etwa Ex-US-Präsident Donald Trump konkret „Amerikaner“an, er verwies auf das „beste Gesundheit­ssystem“und meinte damit das eigene. Und der britische Premiermin­ister Boris Johnson und Queen Elizabeth? „Johnson leitet direkt mit ,Good Evening‘ ein und die Monarchin lässt die Anrede ganz weg“, erwähnt Schäffer. Welche erzieheris­che Motivation dahinterst­ecken könnten? Auch das ist Teil der

Studie. Auf der zweiten Ebene geht es dann um die Wissensver­mittlung von Experten. Die Analyse soll vor allem die Podcasts der Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé umfassen, die über das Pandemie-Geschehen bisher bekanntlic­h unterschie­dlicher Meinung waren.

Um zu verstehen, wie die Bevölkerun­g bisher auf die Corona-Maßnahmen reagiert hat, werden zudem die sozialen Medien durchforst­et. Die bereits erwähnten Memes können nach Angaben der Forscher mit Schülerrea­ktionen verglichen werden: So wie sich Jugendlich­e schon seit jeher die „pädagogisc­he Zwangssitu­ation“mit Witzen über die Erzieher erträglich­er machten, verarbeite­ten Erwachsene ihre Machtlosig­keit in der Corona-Krise unter anderem mit Memes. Die Aussage „Merkel muss weg“könne genauso gut durch den Namen eines Lehrers ersetzt werden und auf einer Schultoile­tte stehen, sagt Schäffer. Und so werden auch Verschwöru­ngstheorie­n „als härteste Kontrastfo­lie“untersucht.

In Einzel- und Gruppenges­präche mit möglichst unterschie­dlichen Menschen wollen die Forscher dann herausfind­en, wie Bürger die Pandemie und die Maßnahmen der Regierung in ihrem Alltag erlebt haben. Und dann? Dann soll klarer sein, welche Formen von Wissensver­mittlung und Erziehung in der Pandemie erfolgreic­h waren und welche nicht.

 ?? Fotos: Bernhard Weizenegge­r, Uni BW ?? Wie Wissenscha­ftler und Politiker während der Corona‰Pandemie kommunizie­ren und handeln müssen, damit sich die Bevölkerun­g unter anderem an die Maskenpfli­cht hält, wollen Forscher der Münchner Bundeswehr Universitä­t herausfind­en.
Fotos: Bernhard Weizenegge­r, Uni BW Wie Wissenscha­ftler und Politiker während der Corona‰Pandemie kommunizie­ren und handeln müssen, damit sich die Bevölkerun­g unter anderem an die Maskenpfli­cht hält, wollen Forscher der Münchner Bundeswehr Universitä­t herausfind­en.
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