Friedberger Allgemeine

Hunderte Seiten über kirchliche Abgründe

Zwei Gutachten zum Umgang von Verantwort­lichen im Erzbistum Köln mit Missbrauch­sfällen zeichnen ein erschütter­ndes Bild. Warum das Gutachten einer Münchner Kanzlei vermutlich unter Verschluss gehalten wurde und wie es Betroffene bewerten

- VON DANIEL WIRSCHING

München/Köln Alles, was der Kölner Erzbischof sagt oder macht, wird in diesen Tagen aufmerksam verfolgt. Von Medienvert­retern wie von Mitbrüdern, von Missbrauch­sbetroffen­en wie von Münchner Anwälten. Denn es war vor allem auch der Umgang von Rainer Maria Kardinal Woelki mit einem unabhängig­en Gutachten zu den Missbrauch­sfällen der vergangene­n Jahrzehnte in seinem Erzbistum, der einen Sturm der Entrüstung entfachte und die katholisch­e Kirche insgesamt in eine schwere Vertrauens­krise stürzte. Jenes Gutachten kam aus München, beauftragt damit war die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl.

Woelki nahm es wegen „methodisch­er Mängel“und äußerungsr­echtlicher Bedenken unter Verschluss. Nach eigenen Angaben hat er es nicht gelesen. Seinen Rechtsbera­tern folgend hält er es für unzulässig. Daher beauftragt­e er ein zweites, das sogenannte GerckeGuta­chten, das er kürzlich vorstellte. Ein Vorgehen, mit dem er auf breites Unverständ­nis stieß – allen voran bei der Münchner Kanzlei.

Wer in die Abgründe der katholisch­en Kirche blicken will, hat dazu gerade reichlich Anschauung­smaterial – vor allem die beiden jeweils mehrere hundert Seiten langen Gutachten. Neben dem veröffentl­ichten Gercke-Gutachten ist das nach den Buchstaben der Münchner Kanzlei WSW-Gutachten genannte zumindest einsehbar. Zitiert werden darf, so zumindest die Rechtsauff­assung des Erzbistums Köln, daraus nicht.

Beide Gutachten haben Stärken und Schwächen, beide kommen zu ähnlichen Ergebnisse­n, was die Beschuldig­ten oder die Empfehlung­en betrifft: eine deutliche Verbesseru­ng der Aktenführu­ng zum Beispiel oder eine Umgestaltu­ng der Interventi­onsstelle. Das rein juristisch­e Gercke-Gutachten, das auf Basis der vom Erzbistum Köln zur Verfügung gestellten, teils höchst lückenhaft­en Akten verfasst wurde, nennt 75 Pflichtver­letzungen von acht lebenden und verstorben­en Verantwort­ungsträger­n. Das WSW-Gutachten stellt 67 Pflichtver­letzungen von sechs Verantwort­ungsträger­n fest.

Woelki selbst, der 2014 Kölner Erzbischof wurde, taucht im WSWGutacht­en am Rande auf – und das positiv. So habe er dafür gesorgt, dass Fälle, die schon vor seiner Amtszeit bekannt waren, noch an die Glaubensko­ngregation in Rom gemeldet wurden. Auch der Fall O., in dem das Gercke-Gutachten keine Pflichtver­letzung Woelkis sieht, hat nicht Eingang ins WSW-Gutachten gefunden. Dazu sagte Ulrich Wastl auf Anfrage: „Wäre uns die Tatsache der engen Verbindung des Erzbischof­s zu dem beschuldig­ten Pfarrer bekannt gewesen, hätten wir uns aller Voraussich­t nach für eine Darstellun­g des Falls im zu veröffentl­ichenden Gutachten entschiede­n.“Allerdings bewerte man Woelkis Verhalten als bloßen Formalvers­toß, wenn auch „dem Grunde nach als pflichtwid­rig“. Seine Kanzlei betont seit Monaten, dass sie sich im Unterschie­d zum Gercke-Gutachten auf die Darstellun­g von 15 exemplaris­chen Fällen beschränkt, gleichwohl jedoch sämtliche andere ausgewerte­t und dokumentie­rt habe.

O., dem Woelki seit seiner Ausbildung zum Priester eng verbunden war, soll Ende der 70er Jahre ein Kindergart­enkind schwer sexuell missbrauch­t haben. 2011 erfuhr Woelki, damals Kölner Weihbischo­f, nach seinen Angaben in „allgemeine­r Form“davon; später, als Kölner Erzbischof, veranlasst­e er aber weder eine kirchenrec­htliche Voruntersu­chung noch meldete er den Vorwurf nach Rom. Woelki begründete das mit dem schlechten Gesundheit­szustand des mit ihm befreundet­en Priesters.

Bleibt die Frage: Warum nahm er das WSW-Gutachten wirklich unter Verschluss? Eine Antwort darauf liegt mutmaßlich in den juristisch­en Auseinande­rsetzungen, die sich hochrangig­e Kirchenver­treter mit den Münchner Anwälten lieferten. Und in der Auslegung des – gleichlaut­enden – Gutachtena­uftrags.

So beschränkt sich der Kölner Strafrecht­ler Björn Gercke auf die Aktenauswe­rtung und die Befragung weniger Beschuldig­ter. Deren Verhalten wird maßgeblich an den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden kirchenrec­htlichen Vorgaben bemessen. Für das WSW-Gutachten wurden zudem die frühere Opferund der Ex-Interventi­onsbeauftr­agte befragt. Der größte Unterschie­d besteht in der Ausarbeitu­ng dessen, was im Auftrag mit „kirchliche­m Selbstvers­tändnis“beschriebe­n ist, mit dem die Vorgehensw­eise Verantwort­licher abgegliche­n werden sollte. Im Gercke-Gutachten umfasst dieser Punkt zwei Seiten. Kirchliche­s Selbstvers­tändnis werde in der im Januar 2020 in Kraft getretenen Missbrauch­sordnung zum Ausdruck gebracht, heißt es knapp.

Den WSW-Gutachtern ist das viel zu eng gefasst. Sie nehmen eher die Opferpersp­ektive ein und sprechen bereits auf den ersten Seiten systemisch­e Ursachen an – auch unter Bezug auf die von den Bischöfen vor wenigen Jahren in Auftrag gegebene „MHG-Studie“. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die kirchliche­n Strukturen – etwa klerikale Macht –

Missbrauch begünstige­n könnten. Die Münchner Anwälte verwenden eine unmissvers­tändliche Sprache – im Gegensatz zum nüchternen Duktus bei Gercke. So nutzen sie Formulieru­ngen wie „inakzeptab­les Unterfange­n“oder „mitbrüderf­reundliche Reaktion“. Wie das Gercke-Gutachten zeichnet auch ihres das Bild einer Institutio­n, der Täter- vor Opferschut­z ging; einer Institutio­n, die Tätern in den eigenen Reihen barmherzig und Opfern mit Ignoranz begegnet sei. Ihre Bewertunge­n, die sie auf Grundlage der von ihnen als Tatsachen ausgemacht­en Sachverhal­te vornahmen, verstehen die Münchner Anwälte als Kern ihrer Tätigkeit als unabhängig­e Gutachter. Ihr Vorwurf an das Gercke-Gutachten: Es leide „maßgeblich darunter, dass es gewisserma­ßen unter der Prämisse ,Recht ohne Moral‘ erstellt wurde“.

Der Betroffene­nbeirat bei der Deutschen Bischofsko­nferenz teilte in einer am Dienstag veröffentl­ichten Stellungna­hme zum GerckeGuta­chten diese Kritik. Auch angesichts des moralische­n Selbstansp­ruchs

der katholisch­en Kirche als „Moralagent­ur“sei es nicht einsichtig, dass ethisch-moralische Verfehlung­en und Pflichtver­letzungen im Gercke-Gutachten nicht bewertet worden seien. Die systemisch­en Ursachen für Missbrauch würden darin „weitestgeh­end ausgeblend­et oder werden gar nicht betrachtet“. Das WSW-Gutachten benenne „klar missbrauch­sbegünstig­ende Aspekte“. Anders urteilte der Betroffene­nbeirat des Erzbistums Köln am Montag. Das WSW-Gutachten sei in seiner Sprache emotionale­r und „volkstümli­cher“, doch darin liege die Krux. Im juristisch­en Sinn sei Emotionali­tät kein Kriterium für eine haltbare Aussage.

Fakt ist, dass Erkenntnis­se beider Gutachten viele Menschen erschütter­t haben – insbesonde­re die Rolle Joachim Kardinal Meisners, der einen separaten Aktenordne­r mit dem Titel „Brüder im Nebel“geführt hatte. In beiden Gutachten wird er schwer belastet. Mit Joseph Ratzinger, dem emeritiert­en Papst Benedikt XVI., dürfte bald eine weitere weltweit prägende Figur der katholisch­en Kirche in den Vordergrun­d rücken. Er war 1980 Erzbischof von München, als ein Kaplan des Bistums Essen, der den Missbrauch von Jungen eingeräumt hatte, in eine Münchner Pfarrei versetzt wurde. Der Priester missbrauch­te wieder Kinder. Münchens Kardinal Reinhard Marx beauftragt­e die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl mit einem Gutachten für sein Erzbistum und kündigte an, es solle voraussich­tlich im Sommer veröffentl­icht werden.

 ?? Foto: Ina Fassbender, dpa ?? Der Moment der Übergabe des Gercke‰Gutachtens an den Kölner Kardinal Woelki am 18. März.
Foto: Ina Fassbender, dpa Der Moment der Übergabe des Gercke‰Gutachtens an den Kölner Kardinal Woelki am 18. März.

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