Hunderte Seiten über kirchliche Abgründe
Zwei Gutachten zum Umgang von Verantwortlichen im Erzbistum Köln mit Missbrauchsfällen zeichnen ein erschütterndes Bild. Warum das Gutachten einer Münchner Kanzlei vermutlich unter Verschluss gehalten wurde und wie es Betroffene bewerten
München/Köln Alles, was der Kölner Erzbischof sagt oder macht, wird in diesen Tagen aufmerksam verfolgt. Von Medienvertretern wie von Mitbrüdern, von Missbrauchsbetroffenen wie von Münchner Anwälten. Denn es war vor allem auch der Umgang von Rainer Maria Kardinal Woelki mit einem unabhängigen Gutachten zu den Missbrauchsfällen der vergangenen Jahrzehnte in seinem Erzbistum, der einen Sturm der Entrüstung entfachte und die katholische Kirche insgesamt in eine schwere Vertrauenskrise stürzte. Jenes Gutachten kam aus München, beauftragt damit war die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl.
Woelki nahm es wegen „methodischer Mängel“und äußerungsrechtlicher Bedenken unter Verschluss. Nach eigenen Angaben hat er es nicht gelesen. Seinen Rechtsberatern folgend hält er es für unzulässig. Daher beauftragte er ein zweites, das sogenannte GerckeGutachten, das er kürzlich vorstellte. Ein Vorgehen, mit dem er auf breites Unverständnis stieß – allen voran bei der Münchner Kanzlei.
Wer in die Abgründe der katholischen Kirche blicken will, hat dazu gerade reichlich Anschauungsmaterial – vor allem die beiden jeweils mehrere hundert Seiten langen Gutachten. Neben dem veröffentlichten Gercke-Gutachten ist das nach den Buchstaben der Münchner Kanzlei WSW-Gutachten genannte zumindest einsehbar. Zitiert werden darf, so zumindest die Rechtsauffassung des Erzbistums Köln, daraus nicht.
Beide Gutachten haben Stärken und Schwächen, beide kommen zu ähnlichen Ergebnissen, was die Beschuldigten oder die Empfehlungen betrifft: eine deutliche Verbesserung der Aktenführung zum Beispiel oder eine Umgestaltung der Interventionsstelle. Das rein juristische Gercke-Gutachten, das auf Basis der vom Erzbistum Köln zur Verfügung gestellten, teils höchst lückenhaften Akten verfasst wurde, nennt 75 Pflichtverletzungen von acht lebenden und verstorbenen Verantwortungsträgern. Das WSW-Gutachten stellt 67 Pflichtverletzungen von sechs Verantwortungsträgern fest.
Woelki selbst, der 2014 Kölner Erzbischof wurde, taucht im WSWGutachten am Rande auf – und das positiv. So habe er dafür gesorgt, dass Fälle, die schon vor seiner Amtszeit bekannt waren, noch an die Glaubenskongregation in Rom gemeldet wurden. Auch der Fall O., in dem das Gercke-Gutachten keine Pflichtverletzung Woelkis sieht, hat nicht Eingang ins WSW-Gutachten gefunden. Dazu sagte Ulrich Wastl auf Anfrage: „Wäre uns die Tatsache der engen Verbindung des Erzbischofs zu dem beschuldigten Pfarrer bekannt gewesen, hätten wir uns aller Voraussicht nach für eine Darstellung des Falls im zu veröffentlichenden Gutachten entschieden.“Allerdings bewerte man Woelkis Verhalten als bloßen Formalverstoß, wenn auch „dem Grunde nach als pflichtwidrig“. Seine Kanzlei betont seit Monaten, dass sie sich im Unterschied zum Gercke-Gutachten auf die Darstellung von 15 exemplarischen Fällen beschränkt, gleichwohl jedoch sämtliche andere ausgewertet und dokumentiert habe.
O., dem Woelki seit seiner Ausbildung zum Priester eng verbunden war, soll Ende der 70er Jahre ein Kindergartenkind schwer sexuell missbraucht haben. 2011 erfuhr Woelki, damals Kölner Weihbischof, nach seinen Angaben in „allgemeiner Form“davon; später, als Kölner Erzbischof, veranlasste er aber weder eine kirchenrechtliche Voruntersuchung noch meldete er den Vorwurf nach Rom. Woelki begründete das mit dem schlechten Gesundheitszustand des mit ihm befreundeten Priesters.
Bleibt die Frage: Warum nahm er das WSW-Gutachten wirklich unter Verschluss? Eine Antwort darauf liegt mutmaßlich in den juristischen Auseinandersetzungen, die sich hochrangige Kirchenvertreter mit den Münchner Anwälten lieferten. Und in der Auslegung des – gleichlautenden – Gutachtenauftrags.
So beschränkt sich der Kölner Strafrechtler Björn Gercke auf die Aktenauswertung und die Befragung weniger Beschuldigter. Deren Verhalten wird maßgeblich an den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden kirchenrechtlichen Vorgaben bemessen. Für das WSW-Gutachten wurden zudem die frühere Opferund der Ex-Interventionsbeauftragte befragt. Der größte Unterschied besteht in der Ausarbeitung dessen, was im Auftrag mit „kirchlichem Selbstverständnis“beschrieben ist, mit dem die Vorgehensweise Verantwortlicher abgeglichen werden sollte. Im Gercke-Gutachten umfasst dieser Punkt zwei Seiten. Kirchliches Selbstverständnis werde in der im Januar 2020 in Kraft getretenen Missbrauchsordnung zum Ausdruck gebracht, heißt es knapp.
Den WSW-Gutachtern ist das viel zu eng gefasst. Sie nehmen eher die Opferperspektive ein und sprechen bereits auf den ersten Seiten systemische Ursachen an – auch unter Bezug auf die von den Bischöfen vor wenigen Jahren in Auftrag gegebene „MHG-Studie“. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die kirchlichen Strukturen – etwa klerikale Macht –
Missbrauch begünstigen könnten. Die Münchner Anwälte verwenden eine unmissverständliche Sprache – im Gegensatz zum nüchternen Duktus bei Gercke. So nutzen sie Formulierungen wie „inakzeptables Unterfangen“oder „mitbrüderfreundliche Reaktion“. Wie das Gercke-Gutachten zeichnet auch ihres das Bild einer Institution, der Täter- vor Opferschutz ging; einer Institution, die Tätern in den eigenen Reihen barmherzig und Opfern mit Ignoranz begegnet sei. Ihre Bewertungen, die sie auf Grundlage der von ihnen als Tatsachen ausgemachten Sachverhalte vornahmen, verstehen die Münchner Anwälte als Kern ihrer Tätigkeit als unabhängige Gutachter. Ihr Vorwurf an das Gercke-Gutachten: Es leide „maßgeblich darunter, dass es gewissermaßen unter der Prämisse ,Recht ohne Moral‘ erstellt wurde“.
Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz teilte in einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme zum GerckeGutachten diese Kritik. Auch angesichts des moralischen Selbstanspruchs
der katholischen Kirche als „Moralagentur“sei es nicht einsichtig, dass ethisch-moralische Verfehlungen und Pflichtverletzungen im Gercke-Gutachten nicht bewertet worden seien. Die systemischen Ursachen für Missbrauch würden darin „weitestgehend ausgeblendet oder werden gar nicht betrachtet“. Das WSW-Gutachten benenne „klar missbrauchsbegünstigende Aspekte“. Anders urteilte der Betroffenenbeirat des Erzbistums Köln am Montag. Das WSW-Gutachten sei in seiner Sprache emotionaler und „volkstümlicher“, doch darin liege die Krux. Im juristischen Sinn sei Emotionalität kein Kriterium für eine haltbare Aussage.
Fakt ist, dass Erkenntnisse beider Gutachten viele Menschen erschüttert haben – insbesondere die Rolle Joachim Kardinal Meisners, der einen separaten Aktenordner mit dem Titel „Brüder im Nebel“geführt hatte. In beiden Gutachten wird er schwer belastet. Mit Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI., dürfte bald eine weitere weltweit prägende Figur der katholischen Kirche in den Vordergrund rücken. Er war 1980 Erzbischof von München, als ein Kaplan des Bistums Essen, der den Missbrauch von Jungen eingeräumt hatte, in eine Münchner Pfarrei versetzt wurde. Der Priester missbrauchte wieder Kinder. Münchens Kardinal Reinhard Marx beauftragte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl mit einem Gutachten für sein Erzbistum und kündigte an, es solle voraussichtlich im Sommer veröffentlicht werden.