Friedberger Allgemeine

Es brennt wieder in Nordirland

Seit Tagen werden in den Städten wieder Autos angezündet, fliegen Molotowcoc­ktails auf Polizisten. Warum 23 Jahre nach dem Karfreitag­sabkommen die Angst vor einem Rückfall in schlimme Zeiten wächst

- VON KATRIN PRIBYL

Belfast „Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden“, steht als Mahnung in großen Lettern auf dem Tor. Es ist Teil der sogenannte­n „Friedensma­uern“, die im nordirisch­en Belfast bis heute unter anderem die protestant­ischunioni­stische Shankill Road und die katholisch-republikan­ische Springfiel­d Road trennen – und damit zwei Seiten, die sich seit Jahren um Versöhnung bemühen. Doch kurz nach Ostern standen an dieser Stelle Autos in Flammen und Rauchschwa­den zogen in den Nachthimme­l, nachdem hunderte junge Menschen auf beiden Seiten Molotowcoc­ktails geworfen hatten.

Am Mittwoch attackiert­en am sechsten Abend in Folge vermummte Angreifer Polizisten mit Steinen, Flaschen und warfen Brandsätze in einen Doppeldeck­erbus, der später komplett ausbrannte. Der Vorfall ereignete sich ebenfalls an einer Kreuzung zwischen einem loyalistis­ch-protestant­ischen und einem nationalis­tisch-katholisch­en Wohn

in Belfast. Ähnlich verstörend­e Angriffe gab es in Derry/Londonderr­y und anderen Orten der Provinz. Insgesamt wurden bereits 55 Polizeibea­mte verletzt.

Es sind Szenen, die Entsetzen auslösten und an die blutige Vergangenh­eit erinnern, die doch überwunden geglaubt war. Was am

Mittwochab­end passiert sei, „ist von einem Ausmaß, das wir seit Jahren nicht erlebt haben“, sagte der Beamte Jonathan Roberts.

Umso mehr bemühten sich Regierungs­vertreter, die Gemüter zu beruhigen. Zudem verurteilt­en sie die Krawalle scharf. „Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptab­el und nicht zu rechtferti­gen“, erklärten Politiker beider konfession­eller Lager gestern in einem Statement nach einer Sondersitz­ung des Kabinetts. Die Provinz wird von einer Einheitsre­gierung der jeweils größten Parteien von protestant­ischunioni­stischer und katholisch-republikan­ischer Seite geführt. „Der Weg, Meinungsve­rschiedenh­eiten zu lösen, ist durch Dialog, nicht durch Gewalt oder Kriminalit­ät“, schrieb Premiermin­ister Boris Johnson auf Twitter. Die Gewalt müsse aufhören, sagte Nordirland­s Regierungs­chefin Arlene Foster von der nordirisch­en Unionisten­partei DUP. Die Justizmini­sterin der Regionalre­gierung, Naomi Long von der kleinen Alliance Party, warnte vor einer Eskalation der Gewalt, „bevor es Leben kosten wird“.

Es herrschen Anspannung und Nervosität, die Nordiren blicken voller Sorge auf die Gewalt. Auch wenn Religion laut Experten heute nur noch eine untergeord­nete Rolle spielt, ziehen sich die ehemaligen Konfliktli­nien bis in die Gegenwart. Jahrzehnte­lang standen die protestant­ischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone Nordirland als Teil des Königreich­s verteidigt­en, den katholisch-irischen Republikan­ern entgegen, die ein wiedervere­inigtes Irland anstrebten. Den Sicherheit­sviertel behörden zufolge stecken hinter den jüngsten Ausschreit­ungen teils militante protestant­isch-loyalistis­che Gruppierun­gen, die auch im Drogenhand­el tätig sind. Aber auch etliche Jugendlich­e hätten sich den Krawallen angeschlos­sen.

Anlass ist nach Angaben der Protestier­enden die Entscheidu­ng der

Staatsanwa­ltschaft, hochrangig­e Politiker der katholisch-republikan­ischen Partei Sinn Féin, dem ehemals verlängert­en politische­n Arm der Terrorgrup­pe IRA, nach der Teilnahme an der großen Beerdigung des Republikan­ers Bobby Storey nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen.

Hinzu kommen die wachsenden Probleme seit dem Brexit. Der Sonderstat­us des Landesteil­s stößt in Teilen des protestant­ischen Lagers auf Widerstand. Die Situation ist komplizier­t. Die Loyalisten in Nordirland befürchten, dass sich die

Provinz aufgrund des im EU-Austrittsv­ertrag festgeschr­iebenen und äußerst kontrovers­en Nordirland­Protokolls weiter von Großbritan­nien entfernt. Danach wurde de facto eine Grenze zwischen Großbritan­nien und Nordirland errichtet, inklusive erforderli­cher Warenkontr­ollen. So wollten Brüssel und London verhindern, dass es eine feste Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gibt, was das Karfreitag­sabkommen verletzt hätte. Es ebnete 1998 den Weg zu einem offizielle­n Frieden in Nordirland. Am 10. April unterzeich­neten Vertreter der britischen und irischen Regierunge­n sowie der nordirisch­en Parteien nach jahrelange­n Verhandlun­gen den historisch­en Friedensve­rtrag, der neben einer Polizeiref­orm, einer Entwaffnun­g aller paramilitä­rischen Organisati­onen, der Amnestie für politische Gefangene auch ein Ende der Direktherr­schaft aus London vorgab.

Fast auf den Tag genau 23 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden sind nicht verheilt, wie die letzten Tage gezeigt haben.

Die Regierung versucht die Gemüter zu beruhigen

Auch Jugendlich­e beteiligen sich an den Krawallen

 ?? Foto: Liam Mcburney, dpa ?? In der britischen Provinz Nordirland kommt es seit Tagen zu nächtliche­n Krawallen, bei denen inzwischen mehr als 50 Polizisten verletzt wurden.
Foto: Liam Mcburney, dpa In der britischen Provinz Nordirland kommt es seit Tagen zu nächtliche­n Krawallen, bei denen inzwischen mehr als 50 Polizisten verletzt wurden.

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