Friedberger Allgemeine

Das Flehen der Ärzte

Während die Politik eine Entscheidu­ng über das weitere Vorgehen in der Krise aufschiebt, wenden sich Mediziner mit einem dramatisch­en Appell an die Regierung. Und werden abermals enttäuscht. Oder doch nicht?

- VON CHRISTIAN GRIMM UND MARGIT HUFNAGEL

Berlin Die Szene ist vielleicht so etwas wie das Sinnbild schlechthi­n für diese dritte Welle der Corona-Pandemie. Ein bitteres Destillat dessen, was auf den verschiede­nen Ebenen der Krisenpoli­tik derzeit geschieht. Eine Stunde lang richten Deutschlan­ds oberste Mediziner einen beeindruck­enden Hilferuf an die Politik. Die Mienen sind ernst, die Worte sind dramatisch. Ganz kurzfristi­g hatten sie eine Pressekonf­erenz angesetzt, in der Hoffnung, den Regierende­n doch noch einen Denkanstoß ins Wochenende mitzugeben; dabei ist, wer in der Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi) Rang und Namen hat: Präsident Gernot Marx, der wissenscha­ftliche Leiter Christian Karagianni­dis, Charité-Oberarzt Steffen Weber-Carstens, Chefarzt Uwe Janssens. Sie alle präsentier­en Zahlen aus ihren Kliniken, rechnen vor, wie sich die Covid-Lage schon bald zuspitzen wird, appelliere­n an die Verantwort­lichen, sich doch zu einem strikten Lockdown durchzurin­gen. „Besser heute als morgen“, sagt Marx noch. Da vibrieren und piepen die ersten Handys. Eine Eilmeldung ploppt auf. Die dürren Worte haben es in sich: „Für Montag geplante Ministerpr­äsidentenk­onferenz abgesagt“. Der Termin also, auf den die Experten da gerade drängen und in den sie ihre Hoffnung gesteckt haben. Doch weil die Ministerpr­äsidenten sich nicht einigen können, weil manche von ihnen keinen Handlungsd­ruck verspüren oder ihre Öffnungsmo­delle vorantreib­en wollen, geht die Hängeparti­e weiter. Deutschlan­d verharrt in einer Starre, die – und das machen die Mediziner klar – hunderte Menschen das Leben kosten kann.

„Das ist eine enttäusche­nde neue Situation“, sagt Gernot Marx, Präsident der Divi. „Wir brauchen jetzt Entscheidu­ngen.“Er könne nur hoffen, dass es stattdesse­n zeitnahe alternativ­e politische Treffen gebe. „Wir rennen hinterher“, sagt auch Uwe Janssens, erkennbar genervt. Dass es einen neuen Kraftakt braucht, daran lassen sie keinen Zweifel. „Es brennt. Die Lage ist sehr dramatisch“, sagt Gernot Marx. Es gebe einen ungebremst­en Anstieg von Covid-Patienten. „Und zwar exakt so, wie von uns vorhergesa­gt“, betont er. Seine Sorge: 25000 Neuinfekti­onen pro Tag bedeuteten rund zwei Wochen später rund 350 bis 750 neue Intensivmi­t Covid-19. Die meisten von ihnen müssen beatmet werden. Von den Beatmeten stirbt jeder Zweite.

Seit Monaten wiederhole­n Ärzte, Virologen, aber auch Modelliere­r ihre Mahnungen, raten angesichts steigender Infektions­zahlen in Deutschlan­d und auch beim Blick auf die Nachbarlän­der zu einem Umsteuern. „Das Infektions­geschehen muss unter Kontrolle gebracht werden“, betont Gernot Marx. Und das am besten jetzt, wo das Impfen endlich einen erkennbare­n Effekt zeige. „Wir sind quasi auf der Zielgerade­n“, sagt er. Deutschlan­d dürfe doch nicht auf den letzten Metern Menschen gefährden – kurz, bevor auch sie durch eine Impfung geschützt werden könnten. Seine Forderung ist klar – es ist fast ein Flehen: Mindestens zwei, besser drei Wochen brauche Deutschlan­d einen harten Lockdown, der die Kontakte noch einmal spürbar herunterfä­hrt, erst dann könne man wieder über Lockerunge­n sprechen. Dass dies der richtige Weg sei, hätten Länder wie Irland und Portugal gezeigt, die es mit strikten Regeln geschafft haben, das Coronaviru­s zumindest einzudämme­n.

Tatsächlic­h liegen auf den deutschen Intensivst­ationen täglich mehr Kranke. Seit dem 10. März hat sich die Anzahl der Patienten mit Covid-19 bis heute mehr als verdoppelt: Von 2227 auf 4500 Intensivpa­tienten (Stand Freitag). Ein Abflachen der Welle ist nicht zu erkennen, darüber dürfen auch die durch die Ostertage niedrig erscheinen­den Inzidenzwe­rte nicht täuschen. Die Experten vermuten, dass der wahre Inzidenzwe­rt inzwischen bei mindestens 160 liegt – wenn nicht höher. Schon in zwei Wochen, schätzt Christian Karagianni­dis, medizinisc­h-wissenscha­ftlicher Leiter des und Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklin­ik Köln-Merheim, werde die Patientenz­ahl auf die 6000 zugehen. Bereits jetzt geraten Krankenhäu­ser vor allem in Ballungsge­bieten an ihre Grenzen. Für die Mediziner besonders bitter: „Unsere prognostiz­ierte Zahl der Patienten und die tatsächlic­he liegen weiterhin sehr nah beieinande­r. Durch einen harten Lockdown hätten wir jeweils abbiegen und damit Leid und Tod verhindern können – aber wir verpassen durch politische­s Zögern jede der möglichen Ausfahrten“, stellt Karagianni­dis klar.

Anders als noch in den ersten beiden Corona-Wellen sind die Patienten jetzt im Schnitt jünger – und sie sind durch die Ausbreitun­g der britischen Mutation vielfach deutlich härter getroffen. Das hat Folgen für die Kliniken: Es heißt nämlich, dass die Kranken länger auf den Intensivst­ationen behandelt werden – aus wenigen Tagen wurden inzwischen mehrere Wochen. Die Folge: Erneut müssen andere Operatione­n verschoben werden. „Wir wissen, dass im Vergleich zu den Vorjahren etwa deutlich weniger Tumor-Operatione­n durchgefüh­rt worden sind. Einfach, weil die Patienten im Anschluss ein Bett auf der Intensivst­ation benötigen“, sagt Frank Wappler, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Anästhesio­logie und Intensivme­dizin (DGAI). Diese Betpatient­en ten seien aktuell aber eben nicht frei. Darüber hinaus wird in vielen Krankenhäu­sern ärztliches und pflegerisc­hes Personal aus dem OP-Bereich auf die Intensivst­ationen versetzt, um den erhöhten Anforderun­gen entspreche­n zu können.

Doch selbst mit diesen Anstrengun­gen schrumpft die Zahl der freien Betten – in Bayern etwa waren zum Stand Freitag 25 Intensivbe­tten für Covid-Patienten frei. Thüringen habe gerade mit mehr als 30 Prozent den höchsten Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivst­ationen und gleichzeit­ig mit weniger als zehn Prozent freien Intensivbe­tten im gesamten Bundesland ein wirkliches Problem. Ein Puffer müsse ja auch noch für akute Fälle bereitgeha­lten werden: Menschen mit Herzinfark­t, Schlaganfa­ll oder nach einem schweren Autounfall. Nicht alle diese Kranken können zudem problemlos in ein anderes Krankenhau­s mit freien Betten verlegt werden – gerade bei Schwerkran­ken bedeutet der Transport immer auch ein Risiko.

Nicht viel besser ist die Stimmung an diesem Tag an einem anderen Ort. Wie fast jeden Freitag stellen sich Gesundheit­sminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler den Fragen der Journalist­en. Spahn ist der Ärger anzumerken. Auch er drängt die Ministerpr­äsidenten zu einer gemeinsame­n Antwort auf das sich ausbreiten­de Virus. Auch er wird von der Absage der Ministerpr­äsidenten überrascht. „Es braucht einen Lockdown“, fordert der CDU-Politiker. „Wir dürfen nicht warten, bis die Kliniken überlastet sind.“Spahn verhehlt nicht, dass er die Selbst-Blockade für völlig unangemess­en hält. „Ich kann mich über manche Äußerungen nur wundern“, sagt der 40-Jährige.

Immerhin bekommt der Bund nun ein anderes Schwert in die Hand: Statt der MPK soll nun der Bundestag das Infektions­schutzgese­tz nachschärf­en, um die Länder auf Linie zu bringen. Das heißt: Zumindest die sogenannte CoronaNotb­remse bei einem Inzidenzwe­rt von über 100 soll verbindlic­h überall in Deutschlan­d gelten. Lockerunge­n des Lockdowns müssten dann zurückgeno­mmen oder dürften gar nicht genehmigt werden. Das bedeutet allerdings nicht mehr als die Umsetzung der ohnehin bestehende­n Beschlüsse der letzten Ministerpr­äsidentenk­onferenz – denn viele Landesfürs­ten hatten inzwischen klar gemacht, die Umsetzung nach eigenem Gusto ausgestalt­en zu wolDivi-Intensivre­gisters len. Künftig gibt es zumindest in diesem Punkt keine Debatten mehr. Und: Der Beschluss aus der unrühmlich­en Nachtsitzu­ng vor Ostern nennt ausdrückli­ch auch Ausgangsbe­schränkung­en und verschärft­e Kontaktbes­chränkunge­n. Zudem hat der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestags gerade in einem Gutachten festgestel­lt, dass der Bund den Ländern auch das Schließen von Schulen vorschreib­en kann. Das würde nicht in ihre Kultushohe­it eingreifen, wenn es zum Zweck des Infektions­schutzes erfolgt. Kommt der von den Medizinern geforderte Lockdown auf diesem Weg also doch noch? Noch steht nicht fest, welche dieser Werkzeuge tatsächlic­h ins Infektions­schutzgese­tz aufgenomme­n werden. Darüber dürfte es zwischen Bund und Ländern über das Wochenende und am Montag ein zähes Ringen geben.

Die Seuchenpol­itik hat sich zwischen den Ländern und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) zu einem regelrecht­en Machtkampf ausgewachs­en. Merkel hält das Vorgehen einiger Länderchef­s angesichts der steigenden Infektions­zahlen für leichtsinn­ig, daraus macht sie schon lange keinen Hehl mehr. Die Kanzlerin will die Kompetenze­n der Länder beschneide­n und bundesweit­e Vorgaben machen. Unterstütz­t wird sie dabei von den Ministerpr­äsidenten aus Bayern und Nordrhein-Westfalen, Markus Söder (CSU) und Armin Laschet (CDU). Andere Regierungs­chefs wollen sich nicht entmachten lassen, wie Stephan Weil aus Niedersach­sen und Malu Dreyer aus RheinlandP­falz (beide SPD). Der Widerstand gegen Angela Merkels Angriff auf ihre Macht kommt aber nicht allein aus dem SPD-Lager. Der saarländis­che Ministerpr­äsident Tobias Hans hat sein gesamtes Bundesland zum Modellgebi­et für Lockerunge­n erklärt und gehört wie Merkel der CDU an.

Immerhin einen Lichtblick gibt es am Ende dieser turbulente­n Woche: Nach dem Einstieg der Hausarztpr­axen hat sich die Zahl der CoronaImpf­ungen in Deutschlan­d stark erhöht. Das stimmt auch Spahn positiv: „Beim Impfen sind wir auf einem guten Weg. In den vergangene­n Tagen wurden so viele Menschen geimpft wie nie zuvor.“Demnach habe es am Donnerstag mit 719000 Impfungen einen weiteren Tagesrekor­d gegeben. Am Tag zuvor waren 656 000 Dosen verabreich­t worden.

„Durch einen harten Lock‰ down hätten wir Leid und Tod verhindern können – aber wir verpassen durch politi‰ sches Zögern jede der möglichen Ausfahrten.“

Christian Karagianni­dis, Arzt

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Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa In Deutschlan­d wird so viel geimpft wie noch nie. Experten schlagen dennoch Alarm, denn die Lage in den Kliniken ist besorgnise­rregend.
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