Das Flehen der Ärzte
Während die Politik eine Entscheidung über das weitere Vorgehen in der Krise aufschiebt, wenden sich Mediziner mit einem dramatischen Appell an die Regierung. Und werden abermals enttäuscht. Oder doch nicht?
Berlin Die Szene ist vielleicht so etwas wie das Sinnbild schlechthin für diese dritte Welle der Corona-Pandemie. Ein bitteres Destillat dessen, was auf den verschiedenen Ebenen der Krisenpolitik derzeit geschieht. Eine Stunde lang richten Deutschlands oberste Mediziner einen beeindruckenden Hilferuf an die Politik. Die Mienen sind ernst, die Worte sind dramatisch. Ganz kurzfristig hatten sie eine Pressekonferenz angesetzt, in der Hoffnung, den Regierenden doch noch einen Denkanstoß ins Wochenende mitzugeben; dabei ist, wer in der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) Rang und Namen hat: Präsident Gernot Marx, der wissenschaftliche Leiter Christian Karagiannidis, Charité-Oberarzt Steffen Weber-Carstens, Chefarzt Uwe Janssens. Sie alle präsentieren Zahlen aus ihren Kliniken, rechnen vor, wie sich die Covid-Lage schon bald zuspitzen wird, appellieren an die Verantwortlichen, sich doch zu einem strikten Lockdown durchzuringen. „Besser heute als morgen“, sagt Marx noch. Da vibrieren und piepen die ersten Handys. Eine Eilmeldung ploppt auf. Die dürren Worte haben es in sich: „Für Montag geplante Ministerpräsidentenkonferenz abgesagt“. Der Termin also, auf den die Experten da gerade drängen und in den sie ihre Hoffnung gesteckt haben. Doch weil die Ministerpräsidenten sich nicht einigen können, weil manche von ihnen keinen Handlungsdruck verspüren oder ihre Öffnungsmodelle vorantreiben wollen, geht die Hängepartie weiter. Deutschland verharrt in einer Starre, die – und das machen die Mediziner klar – hunderte Menschen das Leben kosten kann.
„Das ist eine enttäuschende neue Situation“, sagt Gernot Marx, Präsident der Divi. „Wir brauchen jetzt Entscheidungen.“Er könne nur hoffen, dass es stattdessen zeitnahe alternative politische Treffen gebe. „Wir rennen hinterher“, sagt auch Uwe Janssens, erkennbar genervt. Dass es einen neuen Kraftakt braucht, daran lassen sie keinen Zweifel. „Es brennt. Die Lage ist sehr dramatisch“, sagt Gernot Marx. Es gebe einen ungebremsten Anstieg von Covid-Patienten. „Und zwar exakt so, wie von uns vorhergesagt“, betont er. Seine Sorge: 25000 Neuinfektionen pro Tag bedeuteten rund zwei Wochen später rund 350 bis 750 neue Intensivmit Covid-19. Die meisten von ihnen müssen beatmet werden. Von den Beatmeten stirbt jeder Zweite.
Seit Monaten wiederholen Ärzte, Virologen, aber auch Modellierer ihre Mahnungen, raten angesichts steigender Infektionszahlen in Deutschland und auch beim Blick auf die Nachbarländer zu einem Umsteuern. „Das Infektionsgeschehen muss unter Kontrolle gebracht werden“, betont Gernot Marx. Und das am besten jetzt, wo das Impfen endlich einen erkennbaren Effekt zeige. „Wir sind quasi auf der Zielgeraden“, sagt er. Deutschland dürfe doch nicht auf den letzten Metern Menschen gefährden – kurz, bevor auch sie durch eine Impfung geschützt werden könnten. Seine Forderung ist klar – es ist fast ein Flehen: Mindestens zwei, besser drei Wochen brauche Deutschland einen harten Lockdown, der die Kontakte noch einmal spürbar herunterfährt, erst dann könne man wieder über Lockerungen sprechen. Dass dies der richtige Weg sei, hätten Länder wie Irland und Portugal gezeigt, die es mit strikten Regeln geschafft haben, das Coronavirus zumindest einzudämmen.
Tatsächlich liegen auf den deutschen Intensivstationen täglich mehr Kranke. Seit dem 10. März hat sich die Anzahl der Patienten mit Covid-19 bis heute mehr als verdoppelt: Von 2227 auf 4500 Intensivpatienten (Stand Freitag). Ein Abflachen der Welle ist nicht zu erkennen, darüber dürfen auch die durch die Ostertage niedrig erscheinenden Inzidenzwerte nicht täuschen. Die Experten vermuten, dass der wahre Inzidenzwert inzwischen bei mindestens 160 liegt – wenn nicht höher. Schon in zwei Wochen, schätzt Christian Karagiannidis, medizinisch-wissenschaftlicher Leiter des und Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim, werde die Patientenzahl auf die 6000 zugehen. Bereits jetzt geraten Krankenhäuser vor allem in Ballungsgebieten an ihre Grenzen. Für die Mediziner besonders bitter: „Unsere prognostizierte Zahl der Patienten und die tatsächliche liegen weiterhin sehr nah beieinander. Durch einen harten Lockdown hätten wir jeweils abbiegen und damit Leid und Tod verhindern können – aber wir verpassen durch politisches Zögern jede der möglichen Ausfahrten“, stellt Karagiannidis klar.
Anders als noch in den ersten beiden Corona-Wellen sind die Patienten jetzt im Schnitt jünger – und sie sind durch die Ausbreitung der britischen Mutation vielfach deutlich härter getroffen. Das hat Folgen für die Kliniken: Es heißt nämlich, dass die Kranken länger auf den Intensivstationen behandelt werden – aus wenigen Tagen wurden inzwischen mehrere Wochen. Die Folge: Erneut müssen andere Operationen verschoben werden. „Wir wissen, dass im Vergleich zu den Vorjahren etwa deutlich weniger Tumor-Operationen durchgeführt worden sind. Einfach, weil die Patienten im Anschluss ein Bett auf der Intensivstation benötigen“, sagt Frank Wappler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Diese Betpatienten ten seien aktuell aber eben nicht frei. Darüber hinaus wird in vielen Krankenhäusern ärztliches und pflegerisches Personal aus dem OP-Bereich auf die Intensivstationen versetzt, um den erhöhten Anforderungen entsprechen zu können.
Doch selbst mit diesen Anstrengungen schrumpft die Zahl der freien Betten – in Bayern etwa waren zum Stand Freitag 25 Intensivbetten für Covid-Patienten frei. Thüringen habe gerade mit mehr als 30 Prozent den höchsten Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivstationen und gleichzeitig mit weniger als zehn Prozent freien Intensivbetten im gesamten Bundesland ein wirkliches Problem. Ein Puffer müsse ja auch noch für akute Fälle bereitgehalten werden: Menschen mit Herzinfarkt, Schlaganfall oder nach einem schweren Autounfall. Nicht alle diese Kranken können zudem problemlos in ein anderes Krankenhaus mit freien Betten verlegt werden – gerade bei Schwerkranken bedeutet der Transport immer auch ein Risiko.
Nicht viel besser ist die Stimmung an diesem Tag an einem anderen Ort. Wie fast jeden Freitag stellen sich Gesundheitsminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler den Fragen der Journalisten. Spahn ist der Ärger anzumerken. Auch er drängt die Ministerpräsidenten zu einer gemeinsamen Antwort auf das sich ausbreitende Virus. Auch er wird von der Absage der Ministerpräsidenten überrascht. „Es braucht einen Lockdown“, fordert der CDU-Politiker. „Wir dürfen nicht warten, bis die Kliniken überlastet sind.“Spahn verhehlt nicht, dass er die Selbst-Blockade für völlig unangemessen hält. „Ich kann mich über manche Äußerungen nur wundern“, sagt der 40-Jährige.
Immerhin bekommt der Bund nun ein anderes Schwert in die Hand: Statt der MPK soll nun der Bundestag das Infektionsschutzgesetz nachschärfen, um die Länder auf Linie zu bringen. Das heißt: Zumindest die sogenannte CoronaNotbremse bei einem Inzidenzwert von über 100 soll verbindlich überall in Deutschland gelten. Lockerungen des Lockdowns müssten dann zurückgenommen oder dürften gar nicht genehmigt werden. Das bedeutet allerdings nicht mehr als die Umsetzung der ohnehin bestehenden Beschlüsse der letzten Ministerpräsidentenkonferenz – denn viele Landesfürsten hatten inzwischen klar gemacht, die Umsetzung nach eigenem Gusto ausgestalten zu wolDivi-Intensivregisters len. Künftig gibt es zumindest in diesem Punkt keine Debatten mehr. Und: Der Beschluss aus der unrühmlichen Nachtsitzung vor Ostern nennt ausdrücklich auch Ausgangsbeschränkungen und verschärfte Kontaktbeschränkungen. Zudem hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gerade in einem Gutachten festgestellt, dass der Bund den Ländern auch das Schließen von Schulen vorschreiben kann. Das würde nicht in ihre Kultushoheit eingreifen, wenn es zum Zweck des Infektionsschutzes erfolgt. Kommt der von den Medizinern geforderte Lockdown auf diesem Weg also doch noch? Noch steht nicht fest, welche dieser Werkzeuge tatsächlich ins Infektionsschutzgesetz aufgenommen werden. Darüber dürfte es zwischen Bund und Ländern über das Wochenende und am Montag ein zähes Ringen geben.
Die Seuchenpolitik hat sich zwischen den Ländern und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu einem regelrechten Machtkampf ausgewachsen. Merkel hält das Vorgehen einiger Länderchefs angesichts der steigenden Infektionszahlen für leichtsinnig, daraus macht sie schon lange keinen Hehl mehr. Die Kanzlerin will die Kompetenzen der Länder beschneiden und bundesweite Vorgaben machen. Unterstützt wird sie dabei von den Ministerpräsidenten aus Bayern und Nordrhein-Westfalen, Markus Söder (CSU) und Armin Laschet (CDU). Andere Regierungschefs wollen sich nicht entmachten lassen, wie Stephan Weil aus Niedersachsen und Malu Dreyer aus RheinlandPfalz (beide SPD). Der Widerstand gegen Angela Merkels Angriff auf ihre Macht kommt aber nicht allein aus dem SPD-Lager. Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans hat sein gesamtes Bundesland zum Modellgebiet für Lockerungen erklärt und gehört wie Merkel der CDU an.
Immerhin einen Lichtblick gibt es am Ende dieser turbulenten Woche: Nach dem Einstieg der Hausarztpraxen hat sich die Zahl der CoronaImpfungen in Deutschland stark erhöht. Das stimmt auch Spahn positiv: „Beim Impfen sind wir auf einem guten Weg. In den vergangenen Tagen wurden so viele Menschen geimpft wie nie zuvor.“Demnach habe es am Donnerstag mit 719000 Impfungen einen weiteren Tagesrekord gegeben. Am Tag zuvor waren 656 000 Dosen verabreicht worden.
„Durch einen harten Lock down hätten wir Leid und Tod verhindern können – aber wir verpassen durch politi sches Zögern jede der möglichen Ausfahrten.“
Christian Karagiannidis, Arzt