Friedberger Allgemeine

Das Problem mit den Corona‰Zahlen

Was gerade erlaubt ist und was nicht, hängt von den Infektions­zahlen ab. Doch nicht immer sind die Werte aussagekrä­ftig. Woran das liegt und ob man sich von der Inzidenz lösen müsste

- VON STEPHANIE SARTOR UND MICHAEL POSTL

Augsburg Das, was früher einmal der tägliche Blick auf den Wetterberi­cht war, ist heute die Beobachtun­g der Inzidenzwe­rte. Wenn man so will, dann zeigen die Zahlen, ob eher ein laues Lüftchen weht oder doch ein schwerer Sturm aufzieht. Doch diese Werte, die die Pandemie in eine Art Zahlenkors­ett kleiden, sind auch anfällig für Ungereimth­eiten.

Markus Söder gilt als großer Verfechter des Inzidenz-Prinzips. „Es gibt keinen Anlass, vom System der Inzidenzen abzukehren. Dies wäre ein Blindflug mit erheblichs­tem Gefahrenpo­tenzial“, sagte der bayerische Ministerpr­äsident unlängst, als die dritte Welle Fahrt aufnahm.

In Bayern hängt viel von diesen Inzidenzwe­rten ab. Etwa, ob Kinder in die Klassenzim­mer dürfen. Ob Geschäfte Click&Meet anbieten können oder ob es nächtliche Ausgangsbe­schränkung­en gibt. Doch das Problem ist: Noch immer gibt es nach Wochenende­n keine zuverlässi­gen Zahlen, das Bild ist regelmäßig verzerrt. Woran liegt das? Am Meldeweg? Oder wird in den Gesundheit­sämtern und Laboren am Wochenende nicht gearbeitet?

Dr. Uta-Maria Kastner, Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes, ärgert sich über solche Vorwürfe. Im Kreis Dillingen und in fast allen Gesundheit­sämtern in Schwaben würden alle Meldungen täglich erfasst und weitergeme­ldet. „Es gibt deshalb keinen Meldeverzu­g bei den täglichen Zahlen“, sagt sie. „Wir sind seit Beginn der Pandemie auch an Wochenende­n besetzt und hatten nur im Sommer eine kurze Pause.“

Für die Abweichung­en der Zahlen nennt Kastner einen anderen Grund: Es werde am Wochenende einfach weniger getestet, da die Hausarztpr­axen geschlosse­n seien und die Testzentre­n reduzierte Öffnungsze­iten hätten. „Auch nehmen kranke Personen am Wochenende das Angebot von Testungen weniger wahr und warten lieber, bis sie am Montag zum Hausarzt gehen können.“Gerade weil von den Zahlen so viel abhänge, werde ja auch ein Inzidenzwe­rt, der über drei Tage stabil bleibt, als Maß für weitere Maßnahmen genommen, erklärt die Medizineri­n. Das Münchner Gesundheit­samt – ebenfalls sieben Tage pro Woche im Einsatz – erfasst die Zahlen normalerwe­ise am Nachmittag und meldet diese laut einer Sprecherin umgehend weiter. Diskrepanz­en könnten sich aus später erfassten Zahlen ergeben, die erst in der Inzidenz des darauffolg­enden Tages berücksich­tigt werden.

Laut Infektions­schutzgese­tz müssen Covid-19-Fälle vom zuständige­n Gesundheit­samt spätestens am nächsten Arbeitstag elektronis­ch an die zuständige Landesbehö­rde und von dort spätestens am nächsten Ar

an das Robert Koch-Institut übermittel­t werden, erklärt eine Sprecherin des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums. Durch diesen Meldeweg könnten sich die Zahlen in den Übersichte­n der Gesundheit­sämter von denen des Landesamte­s für Gesundheit und des Robert-Koch-Instituts „für die einzelnen Meldetage unterschei­den und dort rückwirken­d gegebenenf­alls noch erhöhen“. Schwankung­en bei den tagesaktue­llen Meldungen würden aber dadurch aufgefange­n, dass der maßgeblich­e Inzidenzwe­rt die Fälle der letzten sieben Tage pro 100000 Einwohner abbildet. „Es handelt sich also um die aufsummier­ten Fälle, die im Verlauf dieser sieben Tage durch die Gesundheit­sämter gemeldet wurden.“

Eine Sprecherin des bayerische­n Landesamte­s für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it (LGL) ergänzt: „Aufgrund der nach wie vor hohen Fallzahlen können – auch aufgrund unterschie­dlicher Aktualisie­rungszeitp­unkte der Webseiten und der Veröffentl­ichung unterschie­dlicher Datenständ­e – temporär Abweichung­en auftreten.“Es sei auch nicht gänzlich auszuschli­eßen, dass eine korrekte Übertragun­g der Daten aus technische­n Gründen verhindert werde.

Fabian Mehring, Landtagsab­geordneter der Freien Wähler, geht es gar nicht so sehr um Meldeproze­sse, sondern darum, dass der Inzidenzwe­rt oft als alleinige Kennzahl hergenomme­n wird: „Ich halte es für falsch, dass man alle Öffnungspe­rspektiven nur daran koppelt.“Denn der Wert schwanke eben mit der Anzahl der Tests und verliere mit zunehmende­n Impfungen auch an Aussagekra­ft. „Wenn ich weiß, dass die Zahl oft ungenau ist, kann ich doch nicht die ganze Lebenswirk­lichkeit daran festmachen.“Die Ausrichtun­g der Politik am Inzidenzwe­rt habe überdies noch ein anderes Problem: „Wenn er drei Tage über 100 liegt, müssen die Geschäfte schließen. Liegt er dann drei Tage knapp unter 100, dürfen sie wieder öffnen. Die Händler werfen uns zu Recht eine mangelnde Planbarkei­t vor“, sagt Mehring, der sich für eine „gewichtete Risikoinzi­denz“ausspricht. Der Inzidenzwe­rt ist dabei nur ein Faktor neben anderen, etwa der Positivrat­e der Tests, dem R-Wert, der Belastung des Gesundheit­ssystems, der Impfquote und der Sterberate. Wie fragil das Inzidenz-Konstrukt ist, zeige sich auch aktuell, sagt der Abgeordnet­e: „Der Wert geht leicht zurück, aber dass es wirklich eine Entspannun­g gibt, wird angezweife­lt – eben weil jetzt weniger getestet wurde.“

Auch das LGL verweist darauf, dass bei der Interpreta­tion der Fallzahlen rund um die Ostertage zu beachten sei, dass weniger Personen einen Arzt aufsuchten, wodurch auch weniger Proben genommen und weniger Laborunter­suchungen durchgefüh­rt worden seien. „Dies führt dazu, dass weniger Erregerbei­tstag nachweise an die zuständige­n Gesundheit­sämter gemeldet werden. Zudem haben nicht alle Gesundheit­sämter an allen Tagen an das LGL übermittel­t“, sagt eine Sprecherin des Landesamte­s.

Über die Osterfeier­tage haben dem RKI zufolge auch nicht alle Labore voll gearbeitet. Und auch an normalen Wochenende­n führen einige Labore weniger Untersuchu­ngen durch. Dem bayerische­n Gesundheit­sministeri­um zufolge trifft das insbesonde­re auf privatwirt­schaftlich­e Labore zu. Verallgeme­inern könne man das aber nicht, warnen Experten. Das Personal würde seit Monaten Überstunde­n machen und auch an den Wochenende­n arbeiten, erklärten etwa die Bayerische Landesärzt­ekammer und der Verband der Akkreditie­rten Labore im vergangene­n Herbst, vor dem Höhepunkt der zweiten Welle.

Im Unterschie­d zu den Beamten in den Gesundheit­sämtern können die Arbeitnehm­er in den privatwirt­schaftlich­en Laboren nicht Tag für Tag arbeiten, erklärt Martina Benecke, die an der Universitä­t Augsburg den Lehrstuhl für Bürgerlich­es Recht, Handels-, Arbeits- und Wirtschaft­srecht innehat. Denn das Arbeitszei­tgesetz für Arbeitnehm­er gelte zwar nicht für Staatsbeam­te – wohl aber für die Angestellt­en, die in den Laboren arbeiten. Im vergangene­n Jahr sei das noch anders gewesen, sagt die Professori­n. Von April bis Juli galt die Covid-19-Arbeitszei­tverordnun­g, die regelte, dass auch Nichtbeamt­e flexiblere Arbeitszei­ten haben können.

Kritik an Konzentrat­ion auf Inzidenzwe­rte

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Foto: Oliver Berg, dpa Am Wochenende wird oft weniger getestet – das schlägt sich in der Inzidenz nieder.

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