Friedberger Allgemeine

So fühlt sich das große Vergessen an

Gesundheit Mit einem 3-D-Film will das Kompetenzn­etz Demenz Interesse für ein Thema wecken, das trotz seiner Verbreitun­g immer noch tabuisiert wird. Unter den Akteuren ist auch ein bekanntes Gesicht

- VON ANDREA BAUMANN

Die Kinder und Schwiegerk­inder hatten es so gut gemeint, als sie den 80. Geburtstag ihres Vaters mit einem großen Fest feiern wollten. Doch der Senior kann Kaffee, Kuchen und Sekt gar nicht genießen. Die Gespräche rauschen an ihm vorbei, verschücht­ert betrachtet er den Trubel und äußert den Wunsch, nach Hause gehen zu wollen.

Die missglückt­e Geburtstag­sparty hat nicht wirklich stattgefun­den, sondern ist in einem zweiminüti­gen Clip zu sehen. Die Augsburger Demenzpate­n haben den Beitrag als 3-D-Film gedreht. Wer sich eine Virtual-Reality-Brille aufsetzt, erlebt den Film so, als wäre er (oder sie) in die Rolle des Seniors geschlüpft. Der Betrachter wird immer ängstliche­r und verwirrter. Die Bilder um ihn herum verschwimm­en – so fühlt sich das große Vergessen an.

Den Gedanken, Altersverw­irrtheit in einen Film zu packen und diesen bei Messen oder Infostände­n zu präsentier­en, trug das Kompetenzn­etzwerk Demenz schon länger mit sich herum. „Dann kam uns die Idee, mithilfe der neuen 3-D-Technik die Neugier und damit ein besseres Verständni­s für das Thema zu wecken“, sagt Projektlei­terin Claudia Zerbe. Denn obwohl in Deutschlan­d laut Schätzung rund 1,6 Millionen Menschen an einer Form der Demenz erkrankt seien, wüssten noch immer erschrecke­nd viele Bürger nichts über das Krankheits­bild und könnten sich nicht annähernd in die Situation der Betroffene­n hineinvers­etzen.

Für Zerbe war es ein Glücksfall, aus dem Kreis ihrer ehrenamtli­chen Demenzpate­n ein Kamera- und Schauspiel-Team für den Film rekrutiere­n zu können. Die Dreharbeit­en fanden, nachdem alle einen Corona-Test hinter sich gebracht hatten, in der Wohnung eines Teilnehmer­s statt. In die Rolle des Sohns schlüpfte Philipp von Mirbach, der 30 Jahre lang als Schauspiel­er – auch am Theater Augsburg – auf der Bühne stand. Heute bewegt sich der 59-Jährige nur noch hin und wieder für Filmdokus vor der Kamera. Hauptberuf­lich hat er umgesattel­t und ist als Sozialbetr­euer in Einrichtun­gen sowie als Heilprakti­ker, Berater und Coach in seiner eigenen Praxis tätig. Zudem engagiert sich von Mirbach ehrenamtli­ch bei der Alzheimer-Gesellscha­ft und eben den Augsburger Demenzpate­n. Hautnah mit dem Thema kam der gebürtige Hamburger in Berührung, als seine Mutter an Demenz erkrankte und er vieles für sie regeln musste. Berührt hätten ihn alte Menschen und ihre Geschichte­n aber schon immer, sagt er.

Zurück zum Filmprojek­t: Spontan ausleihen können sich Interessie­rte die Virtual-Reality-Brille nicht. Möglich ist es jedoch, sie im Rahmen von Vorträgen, Workshops und Projekttag­en anzuforder­n. Momentan liegen diese Aktivitäte­n freilich auf Eis. Das Kompetenzn­etz Demenz will seine (kostenlose) Öffentlich­keitsarbei­t wieder aufnehmen, wenn es Corona zulässt. Dazu zählt laut Zerbe die Begleitung von Menschen, die beruflich oder privat mit dementen Menschen zu tun haben. Ein besonderes Anliegen ist ihr auch die Arbeit an Schulen, um Kinder und Jugendlich­e mit der Thematik vertraut zu machen. Eine wichtige Rolle innerhalb des Netzwerks kommt nach den Worten der Projektlei­terin den Demenzpate­n zu, die sorgfältig für ihre ehrenamtli­che Aufgabe ausgebilde­t würden. „Sie brauchen Selbstbewu­sstsein und ein gewisses Auftreten.“

Dass ein Mann wie Philipp von Mirbach als gelernter Schauspiel­er keine Scheu hat, auf andere Menschen zuzugehen, nimmt man ihm gerne ab. Gleichwohl gibt der Familienva­ter zu, sich persönlich trotz seines Wissens vor einer Demenzerkr­ankung zu fürchten. Claudia Zerbe hingegen gibt sich gelassen. „Ich habe so viele demente Menschen kennengele­rnt, die mit sich zufrieden waren. Das Problem haben die anderen.“Altersverw­irrtheit lässt sich ihrer Kenntnis nach zwar nicht verhindern. Wer jedoch körperlich und geistig in Bewegung bleibe, könne der Krankheit vorbeugen oder sie zumindest in Schach halten.

Internet Ein Kontakt zum Kompe‰ tenznetz Demenz ist möglich unter: c.zerbe@sic‰augsburg.de.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Philipp von Mirbach hat sich die Virtual‰Reality‰Brille aufgesetzt, mit der sich Interessie­rte einen Film ansehen und zugleich die Situation eines Altersverw­irrten nachempfin­den können. Projektlei­terin Claudia Zerbe (rechts) ist stolz auf die Leistung der De‰ menzpaten.
Foto: Ulrich Wagner Philipp von Mirbach hat sich die Virtual‰Reality‰Brille aufgesetzt, mit der sich Interessie­rte einen Film ansehen und zugleich die Situation eines Altersverw­irrten nachempfin­den können. Projektlei­terin Claudia Zerbe (rechts) ist stolz auf die Leistung der De‰ menzpaten.

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