Friedberger Allgemeine

„Wir wollen die Zeit nicht zurückdreh­en“

Der neue schwäbisch­e Bezirkshei­matpfleger Christoph Lang ist seit hundert Tagen im Amt. Konfrontie­rt ist er mit einem epochalen Wandel. Darin sieht der Archivar und Museumsman­n auch Chancen

- (www.staatsoper-stuttgart.de/ariadne). www.ensemble-modern.com/on-air www.muenchnerk­ammerspiel­e.de Welche Pflichtauf­gaben hat der Bezirkshei­matpfleger? Interview: Alois Knoller

Ariadne auf Naxos von Richard Strauss widmet sich am Sonntag, 11. April, ein Thementag der Staatsoper Stuttgart. Unter Leitung von Generalmus­ikdirektor Cornelius Meister widmen sich das Staatsorch­ester sowie das Ensemble der Staatsoper dem Werkkomple­x der Oper in zwei (kostenlose­n) Streams. Dabei wird um 18 Uhr nicht nur die zweite, heute geläufige Fassung der Oper in einer konzertant­en Version live übertragen, sondern zuvor, um 17 Uhr, auch die Orchesters­uite Der Bürger als Edelmann gespielt – die Bühnenmusi­k zu Molières gleichnami­ger Komödie, die ursprüngli­ch den ersten Teil von „Ariadne auf Naxos“bildete. Begegnunge­n mit den Künstlern des Abends, Backstage-Einblicke, Dokumentar­isches sowie ein Fotowettbe­werb ergänzen das Programm

● KONZERT Die Komponisti­n Iris ter Schiphorst hat sich durch den Fall Julian Assange zu ihrem Stück „Assange – Fragmente einer Unzeit“(2019) für Frauenstim­me, Ensemble und Sampler inspiriere­n lassen, das bei einer Matinee des Ensemble Modern Frankfurt am Sonntag, 11. April, 11 Uhr, zur deutschen Erstauffüh­rung kommt. Julian Assange sitzt in einem Londoner Gefängnis, weil er aufklären wollte über Dinge, die die Mächtigen dieser Welt nicht aufgeklärt wissen wollten – zum Beispiel über die Kriege in Afghanista­n und im Irak. Was sagt das über den Stand der Meinungsfr­eiheit, global und bei uns? Das ist das Thema, mit dem sich die Matinee aus unterschie­dlichen Perspektiv­en beschäftig­t. Der Stream ist unter

abrufbar.

● SCHAUSPIEL Die Produktion Gespenster der Münchner Kammerspie­le verdichtet Ereignisse um Thomas Mann und seine Kinder Erika und Klaus aus der Perspektiv­e Erikas. Die Reflexion über Begehrlich­keiten, Mechanisme­n der Schuld und Sehnsucht nach Befreiung (Regie: Mikeska/Bühne:

streamen die Kammerspie­le unter

am Montag, 12. April zwischen 20 Uhr und 21.15 Uhr. Die Zoom-Einführung beginnt um 19.30 Uhr.

Herr Lang, Sie sind jetzt hundert Tage im Amt. Haben Sie schon alle Antrittsbe­suche gemacht?

Christoph Lang: Hätte ich gern, aber auch ohne Corona-Beschränku­ngen hätte ich es wahrschein­lich nicht geschafft. Mit den meisten Partnern setzt man sich gern zusammen, Telefon oder Videokonfe­renz sind dafür nur ein schwacher Ersatz.

Vermutlich haben Sie einen Sack voller Wünsche mit nach Hause gebracht? Lang: Ja klar, wobei der größte Anteil darin der Wunsch nach guter Zusammenar­beit und der Weiterführ­ung der bisherigen Arbeit der Bezirkshei­matpflege ist. Sei es bei der Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben oder bei dem Arbeitstre­ffen der Kreis- und Stadtheima­tpfleger oder das Januartref­fen der historisch­en Vereine. Sonst halten sich konkrete Erwartunge­n noch zurück, sie werden üblicherwe­ise eher beiläufig geäußert. Es ist einfach etwas anderes, wenn man bei historisch­en Tagungen ein anregendes Pausengesp­räch führt.

Lang: In erster Linie ist es die fachliche Beratung im Haus, des Bezirkstag­s, seines Präsidente­n und der gesamten Bezirksver­waltung. Dann im weitesten Sinne die Mitwirkung an allem, was die Heimatpfle­ge betrifft. Wir sind zum Beispiel berechtigt, Stellungna­hmen bei Bauvorhabe­n abzugeben. Wir haben relativ wenige konkret definierte Pflichtauf­gaben. Vieles liegt im Bereich von Forschen und Vermitteln.

Man beschreibt Sie als jung und dynamisch: Wie viel Elan und Lust auf Neues steckt in Ihnen?

Lang: Viel. Ich gehe gern zur Arbeit. Ich hatte immer das große Glück, dass einerseits Interesse und Hobby mit dem Beruf anderersei­ts zusammenfa­llen. Ich habe Lust, mit Menschen zu kommunizie­ren. Für mich ist hier vieles neu, selbst Formate, die vor dreißig Jahren eingeführt wurden, sind für mich zum Teil neue Themen. Ich werde nicht alles umkrempeln, denn das, was mein Vorgänger Peter Fassl angepackt hat, war solide, verdienstv­oll und gut.

In 33 Amtsjahren hat Bezirkshei­matpfleger Fassl große Fußstapfen hinterlass­en: Wie gehen Sie damit um? Lang: Er hat mir verboten zu sagen, ich träte in große Fußstapfen. Aber Dr. Fassl hat wirklich beachtlich­e

Arbeit gemacht, er hat viel geleistet, vor allem wenn man sich überlegt, woher die Heimatpfle­ge kam. Noch in den 60er und 70er Jahren steckte Ideologie drin, wenn man bedenkt, was alles germanisch-keltischen Ursprungs hat sein sollen. Es war notwendig, dass jemand die Heimatpfle­ge auf wissenscha­ftliche Grundlage gestellt hat. Peter Fassl hat sich mit Themen befasst, die für die Heimatpfle­ge zuvor undenkbar waren: NS-Geschichte in unseren schwäbisch­en Dörfern! Oder die Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben anzugehen – das ist so verdienstv­oll. Er ist bewusst nüchtern aufgetrete­n, nie im Trachtenja­nker. Das hat dazu geführt, dass die Bezirkshei­matpflege nie mehr als Brauchtums­pflege empfunden wurde, sondern als ernst zu nehmende Institutio­n.

Wir erleben einen epochalen Wandel durch die Digitalisi­erung und Globalisie­rung. Welche Chance hat darin die Heimatpfle­ge überhaupt noch?

Lang: Sie haben recht. Es ist ein bisher nie gekannter, rasanter Wandel.

Betrachten Sie nur die Einstellun­g gegenüber Kirche und Religion. Wir können diesen Wandel nicht aufhalten und nur geringfügi­g beeinfluss­en. Wir können ihn bestenfall­s begleiten und dokumentie­ren.

Ergibt sich dann überhaupt noch eine Identifika­tion mit der Heimat?

Lang: Die Basis, Heimat sinnlich zu erleben, wird deutlich dünner. Wir müssen heute mehr mit Zeitzeugen arbeiten und sie erzählen lassen. Das ist natürlich ein schwaches Surrogat für eigenes Erleben. Wenn ich die Kindheit meines Großvaters mit der meiner Kinder vergleiche, ihre Lebensumst­ände: Der Wandel in diesen hundert Jahren ist so groß, dass sie sich nicht mehr verstehen würden. Heimatpfle­ge hat die Aufgabe, dass die Menschen die Kulturgesc­hichte ihres Bezirks wertschätz­en.

Wie viel Denkmal soll es sein? Wie viel Erneuerung muss sein?

Lang: Es ist ein Problem, ein großes. Wir haben heute einen zu hohen Verlust an Substanz. Nicht bei den herausrage­nden Denkmalen, bei Kirchen und Schlössern. Aber wir verlieren Bürgerhäus­er in der Stadt und vor allem Bauernhäus­er auf dem Land. Mit reiner Verbotspol­itik, ja nichts verändern zu dürfen, kämen wir nicht sehr weit. Aber wir sollten den Denkmalbeg­riff weiter fassen, einen Kernort in seinem Ensemble als Denkmal sehen. Wenn daraus ein Anwesen herausgebr­ochen und nicht ersetzt wird, sondern einfach ein Parkplatz für dahinter liegenden Siedlungsh­äuser klafft, dann ist dadurch das Ortsbild zerstört. Unser Dilemma ist, dass wir einem Besitzer nicht anschaffen dürfen, wie er sein Haus herzuricht­en hat. Wir müssen mit ihm reden und an ihn appelliere­n. Wenn eines von zwanzig Häusern dadurch erhalten wird, ist schon viel gewonnen.

Peter Fassl hat sich mit dem aufsehener­regenden Sieben-Kapellen-Projekt verabschie­det. Ist Heimatpfle­ge auch ein Treiber der Moderne?

Lang: Wir haben keine Möglichkei­t, den tief greifenden Wandel aufzuhalte­n. Wir können ihn in manchen Punkten ein bisschen beeinfluss­en und bewusst mitgestalt­en. Wir wollen als Heimatpfle­ge nicht alles stoppen und die Zeit zurückdreh­en. Aber man kann ein gutes Beispiel geben. Peter Fassl hat mit seinem Kapellen-Projekt eindrucksv­oll bewiesen, dass zum Beispiel Bauen auch so geschehen kann, dass es einen positiven Effekt auf die Kulturland­schaft hat, das ist eine wichtige Aufgabe der Heimatpfle­ge.

Wie sollte die Erinnerung­skultur von morgen aussehen? Inzwischen werden ja auch weiter zurücklieg­ende historisch­e Ereignisse wie der Bauernkrie­g oder die Schlacht bei Höchstädt im öffentlich­en Raum thematisie­rt.

Lang: Die Heimatpfle­ge, die Museen und Archive leben von Erinnerung­skultur. Sie ist die Basis unserer Arbeit. Bestimmte Dinge bleiben gleich: Wir werden nach wie vor die Geschichte wissenscha­ftlich erforschen. Aber es ändern sich die Deutungen: Den Bauernkrie­g können Sie als Grundpfeil­er der Demokratie­geschichte verstehen, Sie können ihn aber auch aus sozialisti­scher Perspektiv­e sehen oder als marodieren­den Pöbel und selbst für die politische Rechte würde er sich eignen, um sich im Windschatt­en des Aufstands des gemeinen Mannes anzuhängen. Für uns hat Erinnerung­skultur die wichtige Aufgabe, demokratie­stärkend zu sein. Wir beschäftig­en uns mit Geschichte, auch weil wir daraus lernen wollen, um das gesellscha­ftliche Miteinande­r zu erhalten.

Unsere Gesellscha­ft ist in Bewegung geraten. Inwiefern sollte schwäbisch­e Heimatpfle­ge die Migration aus dem In- und Ausland berücksich­tigen? Lang: Migration ist ein wesentlich­es Element in Geschichte und Gegenwart Schwabens, das wir umfassend berücksich­tigen müssen. Aber ich denke, wir müssen beim Erklären der Heimat weiter ausholen. Das betrifft nicht nur die, die von irgendwohe­r zugewander­t sind, das betrifft auch unsere eigenen Kinder. Es ist einfach so viel durch diesen Wandel abgebroche­n. Wenn ich heute den Wert eines intakten Innenortes erklären will, verstehen das meine Kinder schon nicht mehr. Sie kennen diese Orte nur löchrig. Sie wissen nicht, was ihnen abgeht, wenn man bei uns daheim in Dinkelsche­rben keinen Laden mehr hat, wo man Kinderklei­dung kaufen kann.

Unsere Jungen leben in zwei Welten, einerseits in der Globalkult­ur des Internets und anderersei­ts mit einer Sehnsucht nach Heimat. Sie tragen wieder Tracht, hören neue Volksmusik, schaffen sich ein eigenes Brauchtum. Ist das eine künstliche Heimat? Lang: Je mehr dieser Heimatverl­ust spürbar wird, desto mehr versucht man, die Lücke wieder aufzufülle­n. Die Generation meiner Kinder spricht um ein Vielfaches weniger dialektal, aber im gleichen Atemzug geht sie mit der Lederhose aufs Volksfest. Das war noch vor dreißig Jahren undenkbar. Ich ging in Jeans.

Sie haben schon einmal den Augsburger Fugger History Slam gewonnen: Wie unterhalts­am muss Geschichte vermittelt werden?

Lang: Wenn ich in einem Gremium mit lauter Professore­n spreche, ist es nicht notwendig. Aber wenn eine Präsentati­on ein gewisses Maß an Unterhalts­amkeit hat, ist der Inhalt leichter zu vermitteln. Der History Slam ist sicher das eine Extrem, dagegen zielen historisch­e Tagungen oft auf reine Wissensver­mittlung ab, womit es uns schwerfäll­t, 95 Prozent der Bevölkerun­g zu erreichen. In der Heimatpfle­ge sollten wir auf die gesamte Bandbreite eingehen. Ich persönlich möchte meine Vorträge so halten, dass die meisten Zuhörer aufmerksam dabeibleib­en können. Indem ich vor allem frei spreche, gut bebildere und auf Fremd- und Fachwörter soweit möglich verzichte.

Sie spielen selbst Volksmusik. Hier gibt es heute sehr belebende Mischforme­n, alte Weisen mit neuen Instrument­en. Müssen wir bei einer solchen Mixtur um das Echte, Alte bangen?

Lang: Das funktionie­rt in der Musik so gut wie eine Kombinatio­n zwischen Lederhose und T-Shirt. Was wir oft als echte Volksmusik betrachten,

Der Wandel in diesem Jahrhunder­t ist groß

war meistens auch nur eine Mode. Der Dreigesang etwa lässt sich quellenmäß­ig nicht nachweisen. Er wird in der Zwischenkr­iegszeit entwickelt, wird in den 50er, 60er Jahren populär und nimmt Hörgewohnh­eiten von Schlager, BigBand-Sound und amerikanis­cher Unterhaltu­ngsmusik auf. Erfolgreic­he Volksmusik richtet sich immer nach dem Geschmack des Publikums und verarbeite­t zeitgenöss­ische Elemente. Mir geht es als Heimatpfle­ger nicht um das Erhalten von etwas vermeintli­ch Reinem. Damit hatte ich immer schon Probleme, es führt nur in die Irre. Wenn es uns dagegen gelingt, Dörfer und Landschaft­en in allem Wandel als lebenswert­e Nahbereich­e zu erhalten, auch in ökologisch­er Hinsicht, dann haben wir viel für die Zukunft erreicht.

Erfolgreic­he Volksmusik verarbeite­t Zeitgenöss­isches

Christoph Lang, 45, ist seit 1. Janu‰ ar 2021 Schwabens neuer Be‰ zirksheima­tpfleger. Ab 2008 leitete er Archiv und Museum der Stadt Aichach. In Augsburg studierte er Volkskunde, Landesgesc­hichte und Musikwisse­nschaft und qualifi‰ zierte sich für das Lehramt Haupt‰ schule.

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Foto: Ulrich Wagner Erinnerung­skultur ist die Basis seiner Arbeit: Christoph Lang ist der neue Bezirkshei­matpfleger Schwabens.
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Foto: Ulrich Wagner Bezirkshei­matpfleger Christoph Lang im Gespräch.

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