Friedberger Allgemeine

Im Rollerfieb­er

Seit 75 Jahren fahren Millionen Menschen auf die Vespa ab. Eine kleine Zeitreise mit einem Kult-Roller, der auch in Augsburg Geschichte schrieb und schreibt

- / Von Lea Thies

Zeitreisen sind doch möglich, das weiß Michael Haugg nur zu gut. Monika Rasidovic auch. Und Andreas Geßler sowieso. Die Maschine, die es dazu braucht, sieht alles andere als modern aus: Mehr Rundungen als Kanten, meist bunt lackiert, sie stinkt nach Benzin – und macht einen Höllenlärm, wenn sie denn anspringt. Eine alte Vespa kann zicken, das weiß jeder. Aber wenn sie dann läuft: ein großer Spaß. Dann transporti­ert sie Menschen von A nach B und steht wie kein anderes Gefährt für das locker-leichte italienisc­he Lebensgefü­hl auf zwei Rädern. Und es passiert dann auch das: Zweitakter gehört, gesehen oder gerochen, Erinnerung­en ploppen auf, gedanklich­er Zeitsprung in die Vergangenh­eit – bei einigen wenigen geht es sogar bis zu 75 Jahre zurück, als die allererste­n Vespas über die Straßen knatterten. Jede Vespa hat ihre Geschichte, sagen Kenner. Machen wir uns auf die Suche.

Nachdem eine Vespa die legendäre Wüsten-Rallye Paris–Dakar mitgefahre­n ist, denken sich der Augsburger Michael Haugg und ein Freund: Können wir auch. Sie binden Zelt, Schlafsack und Werkzeug auf ihre Vespas und machen sich auf nach Marokko. Ihr erstes großes Abenteuer. Die Menschen schauen die beiden Mittzwanzi­ger auf den ungewöhnli­chen Gefährten an, als seien sie Außerirdis­che. Besonders Michaels lilafarben­e Vespa kommt gut an, einer bietet ihm als Tausch zehn Kamele. Er lehnt ab. Man verkauft weder seine Liebe noch seine Freiheit. Außerdem wäre ein Rückflug nicht halb so spannend wie ein Rückgeknat­ter – selbst wenn ein Flugzeug irgendwie ein Verwandter der Vespa ist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg darf der Flugzeughe­rsteller Piaggio keine Flugzeuge mehr bauen. Unternehme­nschef Enrico Piaggio hat die Idee von einem günstigen

Volksvehik­el: ein motorisier­tes Zweirad, auf dem bequem und sparsam große Strecken zurückgele­gt werden können. Nachdem ein erster Entwurf missfällt, beauftragt er Corradino D’Ascanio, die Pläne zu überarbeit­en. Der Flugzeugin­genieur hat noch nie zuvor ein Zweirad gebaut – und denkt ganz neu.

Sein Prototyp ist revolution­är: kettenlose­r Antrieb, kleine Räder, ein Vorderrad-Tragarm wie ein Flugzeugtr­agwerk, ein Beinschild als Wind-Wasser-Staub-Schutz, niedriger Einstieg für eine bequeme Sitzpositi­on, auch mit Rock fahrbar. Als Enrico Piaggio den Entwurf sieht, soll er vor Begeisteru­ng gerufen haben: „Sembra una vespa“(Sieht aus wie eine Wespe). Laut, wendig, elegant und auffällig – am 23. April 1946 wird das Patent angemeldet, im toskanisch­en Pontedera startet die Serienprod­uktion. Die erste Vespa hat 98 Kubikzenti­meter Hubraum, kostet 55000 Lire – und ist kaum gefragt.

Das ändert sich erst, als 1948 die stärkere Vespa 125 auf den Markt kommt. Plötzlich wird die Vespa zum Symbol für den Aufbruch eines Landes und die Freiheit des Einzelnen. Als Anfang der 1950er Jahre auch noch Hollywood-Stars wie Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einer Vespa abgelichte­t werden, steht der Roller für „la dolce vita“– das süße italienisc­he Leben, von dem nun auch jenseits der Alpen mehr Menschen zwei Räder abhaben wollen. Da geht es los mit der Faszinatio­n und dem Rollerfieb­er. Bald wird die Vespa auch für das Abenteuer und das Unangepass­te stehen. Was auch der legendäre freche Werbespruc­h transporti­ert: „Wer Vespa fährt, isst Äpfel.“Kann denn Fahren Sünde sein?

Corona setzt auch der Augsburger Rollerszen­e zu. Normalerwe­ise trifft man sich im Frühjahr zu Hunderten zum Anrollern, im Spätsommer zum Abrollern. Dazwischen: Rollertref­fen. Um sich zu sehen, Geschichte­n auszutausc­hen, Pizza zu essen und sich beim Schrauben zu helfen. Alles nicht möglich zurzeit. Digital sind viele weiterhin in Kontakt. Sieben schwingen sich für ein Interview auf Abstand auf den Roller und kommen hinter das Augsburger Rathaus.

Sie sind alle um die 50 und kennen sich vom Roller-Kö, jenem legendären Treffpunkt am Augsburger Königsplat­z vor dem ehemaligen Salamander-Schuhgesch­äft. Daher auch das Salamander-Logo, das als Aufnäher auf dem Rücken von Andreas Geßlers alter Bomberjack­e prangt. Sie ist übersät mit weiteren Aufnähern, jeder steht für ein Vespa-Erlebnis, eine Vespa-Geschichte, Vespa-Liebe. Etwa das 1000-Kilometer-Rennen von Mantua nach Rom, an dem der Augsburger 2017 teilnahm. Durch Süditalien ist er auch schon gekurvt. Er ist sogar Mitglied in einem Vespa-Klub am Gardasee.

Andere würden ihn als Vespaverrü­ckt bezeichnen, er selbst nennt sich sogar Vespa-Fanatiker. Er mag die bunten Farben und die runden Formen. Widerstand war zwecklos.

Seine Mutter wuchs in Südtirol auf und „ist auf Vespa gesponnen“, Opa ist eine „Lampe Unten“gefahren, eines der ersten Modelle, das die Lampe noch unten auf dem Vorderrads­chutzblech hatte. „Jeder in meinem Umfeld hatte einen Roller.“Er hat heute fünfeinhal­b – der halbe ist wirklich durchgesäg­t und steht im Büro. Jede seiner Vespas hat einen Namen, schließlic­h habe eine Vespa Persönlich­keit. Da wird Zeit und Liebe reingestec­kt. „Die letzte Vespa wollte ich eigentlich gleich weiterverk­aufen. Als ich ihr aber einen Namen gab, wusste meine Frau sofort, die bleibt jetzt auch“, erzählt Andreas Geßler lachend. Heute hat er „Den Eisernen Franz“aus der Garage geholt, ein T3-Modell Baujahr 1958, seine Augsburg-Vespa.

Augsburg wird zur deutschen Vespa-Hauptstadt. Nachdem der Fahrradher­steller Hoffmann aus Lintorf bei Düsseldorf eine Vespa namens „Königin“eigenmächt­ig weiterentw­ickelt hat, entzieht Piaggio ihr die Produktion­slizenz und gibt sie dem Ex-Flugzeughe­rsteller Messerschm­itt. Im Messerschm­ittWerk in Augsburg-Haunstette­n werden fortan Vespas montiert. 1957 zieht sich Messerschm­itt aus der Produktion zurück und die „Vespa Augsburg GmbH“wird gegründet, bei der bis 1963 Vespas vom Band laufen. Typisch für die Augsburg-Vespa ist das filigrane Schwanenha­ls-Rücklicht.

Nach und nach rollern alle an, man hört sie schon von Weitem. Andreas Frey ist mit seiner blauen „Fuffi“gekommen, wie die Vespas mit 50 Kubikzenti­metern Hubraum genannt werden. Er hat daheim auch eine der unter Sammlern heiß begehrten „Königinnen“stehen. Aber „Bauer Bitz“, wie er seinen Roller im Spaß nennt, mag er lieber. „Die Fuffi ist die Schönste aller Vespas, wenn sie nicht so schlimm zum Schrauben wäre. Dazu braucht man kleine Hände.“Hat er nicht. Schraubt trotzdem weiter. Gehört ja dazu. Macht ja Spaß, und jede Vespa einzigarti­g. Kann aber auch nerven.

„Du ist immer am Schrauben und ein bisschen Nervenkitz­el ist auch immer dabei, weil du nie weißt, ob sie auch läuft“, sagt Bernd Heigl, der mit seiner roten PX gekommen ist. Bei Monika Rasidovics selbstbesp­rühter Camouflage-Vespa namens „Das Tier“läuft’s heute nicht rund. Kurze Motorpanne unterwegs. Als sie und ihre Schwester Mary etwas später anknattern, greift Andreas Geßler gleich zum Werkzeug und schaut, was los war. „Mich fasziniert am meisten der Zusammenha­lt der Leute, die Technik, jeder kann jedem helfen“, sagt Andreas Frey währenddes­sen und zeigt seine alten Roller-Kö-Fotos im Hochformat­Fächer-Album, original 80er-Stil.

Der Kö, also der Königsplat­z, wird zum Treffpunkt für Rollerfahr­er und Möchtegern-Rollerfahr­er. Zunächst nur am Wochenende, ab 1986 jeden Abend. 80 bis 100 Leute. Motorisier­t dabei Mitte der 80er sind

Andreas Geßler, Andreas Frey, Michael Haugg und Bernd Heigl. Monika und Mary Rasidovic tauchen ab Ende der 80er regelmäßig auf, weil dort die coolen Jungs abhängen: Popper in Benetton-Pullis, ein paar Mods mit Parka und auch New Waver – allesamt nicht gerne gesehen in der Augsburger 80er-Moped-Szene. Da fliegen schon mal Bierflasch­en. Auch die Polizei hat ein Auge auf die Apfelesser von Augsburg, von denen einige Verkehrssü­nden begehen und an der Leistung ihrer Roller herumschra­uben. Wer vom „Rollerjäge­r von Augsburg“erwischt wird, muss später als Strafe im Zoo ausmisten: Elefantens­tall, Gepardenkä­fig…

Die Sonne kommt raus. Passanten gucken, lächeln, bleiben kurz stehen, bestaunen die Roller. Ein Hauch Italien weht über den Platz hinter dem Renaissanc­e-Rathaus. „Rollerfahr­en ist Freiheit, ist ein Lebensgefü­hl. Da gibt es kein Corona, keine Probleme, wenn ich auf dem Tier sitze“, sagt Monika Rasidovic. Jan Moser parkt seine französisc­he Vespa Baujahr 1954 samt Beiwagen auf dem Elias-Holl-Platz. Mit dem Gespann transporti­ert er ab und zu auch seine Kinder, die auch in ein paar Jahren Roller fahren wollen.

Die nächste Generation im Klub der bis heute 20 Millionen Vespas steht also schon in den Startlöche­rn. Schrauben, knattern, Geschichte­n sammeln. Am Roller-Kö, der nach seiner Auflösung 1995 Ende der Nullerjahr­e wiederbele­bt wurde, tauchen auch immer mehr Jüngere auf. Der Kult verbindet. „Wir haben erst bei Andis Fünfzigste­m gesagt: Wer hätte damals gedacht, dass wir uns in 30 Jahren noch kennen und alle noch Vespa fahren“, sagt Monika Rasidovic.

Die knatternde Zeitmaschi­ne funktionie­rt. Auch Richtung Zukunft.

Lektüre

 ??  ?? Sieben Urgesteine vom Augsburger Roller‰Kö (von links): Andreas Geßler, Mary Rasidovic, Bernd Heigl, Jan Moser, Monika Rasidovic, Andreas Frey, Michael Haugg.
Sieben Urgesteine vom Augsburger Roller‰Kö (von links): Andreas Geßler, Mary Rasidovic, Bernd Heigl, Jan Moser, Monika Rasidovic, Andreas Frey, Michael Haugg.
 ??  ?? Michael Bachinger 1961 mit seiner Vespa in Süditalien.
Michael Bachinger 1961 mit seiner Vespa in Süditalien.
 ??  ?? Vater und Sohn Bartha: 1961 Hochfeld –2021 Lechhausen
Vater und Sohn Bartha: 1961 Hochfeld –2021 Lechhausen
 ??  ?? Anni Ritschel in den 1960er‰Jahren auf ihrer „Lampeunten“.
Anni Ritschel in den 1960er‰Jahren auf ihrer „Lampeunten“.
 ??  ?? Eberhard Weit als 19‰Jähriger 1963 in der Provence.
Eberhard Weit als 19‰Jähriger 1963 in der Provence.
 ??  ?? Reinhold Holz fuhr 1953 mit der Vespa nach Venedig.
Reinhold Holz fuhr 1953 mit der Vespa nach Venedig.
 ??  ?? Mit der Vespa bis nach Marokko: Michael Haugg im Jahr 1991.
Mit der Vespa bis nach Marokko: Michael Haugg im Jahr 1991.
 ??  ?? Janina, Lea und Manuel Franek 2007 auf Omas alter Vespa.
Janina, Lea und Manuel Franek 2007 auf Omas alter Vespa.
 ??  ?? Nadine Solygan als Zweijährig­e Ende der 1980er Jahre.
Nadine Solygan als Zweijährig­e Ende der 1980er Jahre.
 ?? Fotos: Thies ?? Günther Uh‰ lig: „Vespa – Die Ge‰ schichte des Kultklassi‰ kers“(Motorbuch‰Ver‰ lag, 312 S., 29,90 ¤)
Fotos: Thies Günther Uh‰ lig: „Vespa – Die Ge‰ schichte des Kultklassi‰ kers“(Motorbuch‰Ver‰ lag, 312 S., 29,90 ¤)
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