Viren: Von Tier zu Mensch
Als um das Jahr 1880 in den USA und Europa die ersten Telefone in Betrieb gingen, gab es noch keine Telefonnummern. Der Anrufer stellte per Kurbel oder Knopfdruck an seinem Apparat eine Verbindung zur Telefonzentrale her und gab an, wen er gerne sprechen möchte. Eine Telefonistin stöpselte dann die Kabel an der Schalttafel zusammen und stellte so eine Verbindung her. Was für ein Service! Kommunikation war damals noch echte Handarbeit. Mitunter musste man ein paar Stunden warten, wenn es gerade kein freies Loch gab. Weil es kaum „Abonnenten“gab – nur ein paar hundert Haushalte konnten sich damals überhaupt einen Telefonanschluss leisten – brauchte man zunächst auch keine Nummern. Ihre Einführung verdankt sich einem pandemischen Hintergrund.
1879 grassierten in dem amerikanischen Städtchen Lowell die Masern. Weil es damals noch keinen Impfstoff gab und in der Telefonzentrale nur vier Leute arbeiteten, war das Kommunikationssystem bedroht. Wie sollten Anrufer verbunden werden, wenn die Telefonisten erkrankten und ausfielen? Dann wäre Funkstille. Der Arzt Moses Greeley Parker hatte daher eine ebenso simple wie geniale Idee: Die Telekommunikationsanbieter sollten den rund 200 Abonnenten der Stadt eine vierstellige Nummer zuweisen. Wenn ein Abonnent in der Zentrale anrief, musste er nur die Nummer des Angerufenen nennen. Der Mitarbeiter musste dann nicht mehr schauen, wo ein Lämpchen aufleuchtete, sondern konnte einfach „durchstellen“. Das System hatte den Vorteil, dass Telefonisten schneller eingelernt und im Fall einer Erkrankung ersetzt werden konnten.
Die Telefonnummer sollte sich rasch als neuer Kommunikationsstandard etablieren. Obwohl sie anfangs gar nicht gut ankam, wie der Autor Ammon Shea in seinem Buch „The Phone Book“schreibt: „Die meisten Leute waren der Meinung, dass die Abonnenten ihre Telefone früher oder später abgeben als sich der entmenschlichenden Unwürde, von einer Nummer identifiziert zu werden, zu unterwerfen.“Heute gibt es nach Angaben der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) rund 914 Millionen Festnetznummern auf der Welt. Vor allem die Zahl der Mobilfunknummern ist mit dem Siegeszug von Smartphones in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen: auf weltweit neun Milliarden.
Die Telefonnummer, ein Anachronismus aus der Analogzeit, ist zur zentralen ID in der digitalen Gesellschaft geworden, noch wichtiger als die Reisepassnummer: Man braucht sie in Online-Shops, in sozialen Netzwerken oder Messengerdiensten. So kann man sich bei Facebook wahlweise mit seiner E-Mail-Adresse oder Telefonnummer anmelden. Ohne Handynummer kann man in der Audio-App
Anfang der 1960er Jahre verständigten sich Vertreter der Internationalen Fernmeldeunion (ITU), einer Unterorganisa tion der Vereinten Nationen, darauf, jedem Kontinent bzw. jedem Land eine Ländervorwahl zuzuweisen: 1 für die USA, 2 für Afrika, 3 und 4 für Europa usw. Anrufer, die einen Mo bilfunknutzer im Kosovo anrufen wollten, mussten bis vor ein paar Jahren die Ländervorwahl für Monaco (377) oder Slowenien (386) wählen. Der Grund: Nachdem Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, hatte es keine eigene Ländervorwahl. Erst 2016 bekam das Land von der ITU eine eigene Vorwahl zugeteilt.
Die in Fahrstühlen installierten Wählautomaten besitzen selbst eine Telefonnummer – und können aus dem ganz nor malen Telefonnetz angerufen werden. Dieser Umstand wur de vor ein paar Jahren einer Familie in Berlin zum Verhäng nis: Sie wurde vom Wählautomaten eines Aufzugs nachts aus dem Schlaf geklingelt. Der Grund: Statt in der Notruf zentrale landeten die Notrufe auf dem Festnetzanschluss der Familie.
Die späteren AppleGründer Steve Jobs und Steve Wozni ak machten sich einst einen Scherz daraus, beim Papst an
„Clubhouse“schon gar nicht mehr mitreden. Ohne Nummer kein Anschluss. Das heißt: Die Telefonnummer erfüllt einen ganz anderen Zweck als den, für den sie ursprünglich geschaffen wurde. Und das ist ein Problem.
Gerade weil die Telefonnummer nicht mehr nur an eine Leitung in einem Gebäude gekoppelt, sondern mit zahlreichen anderen Diensten verknüpft ist, sagt sie zum Teil zurufen: Mithilfe eines analogen Frequenzzählers, der durch Pfeiftöne Anrufe weiterleitete, riefen sie im Vatikan an und gaben vor, USAußenminister Henry Kissinger zu sein. Phreaking nennt sich die Technik, bei der Bugs im Telefon netz ausgenutzt werden, um hohe Telefongebühren bei Aus landsgesprächen zu vermeiden.
1997 gingen in New York die Telefonnummern aus, weil zunehmend Computer, Funkmeldeempfänger (Pager) und FaxGeräte an das Funknetz angeschlossen waren und eine eigene Nummer hatten. Damals wählte man sich noch mit einem Modem über die analoge Telefonleitung in das Inter net ein – weshalb es häufiger vorkam, dass das Besetztzei chen ertönte, wenn der Angerufene im Internet surfte. Das japanische Kommunikationsministerium plant wegen des neuen 5GStandards und der wachsenden Anzahl internet fähiger Geräte zehn Milliarden zusätzliche 14stellige Mobil nummern zu vergeben, weil die 11stelligen Nummern 2022 ausgehen könnten.
Mobilfunknummern sind längst Statussymbole. Bei einer Auktion in Katar 2006 legte ein Scheich für die Nummer 666 6666 umgerechnet 2,3 Millionen Euro hin. mehr über eine Person aus als ihr Vor- und Zuname. Mit etwas Geschick kann man in Datenbanken herausfinden, wo man wohnt, wie die Familienmitglieder heißen, wie viel Steuern man bezahlt, wo man überall hingereist ist und ob man einen Eintrag im Strafregister hat. Wenn früher eine Telefonnummer in die falschen Hände geriet, wurde man schlimmstenfalls Opfer von Telefonterror. Heute ist die ganze Identität bedroht.
In der Vergangenheit haben Cyberkriminelle neben E-Mail-Adressen, Passnummern und Kreditkartendaten auch immer wieder Telefonnummern erbeuten können, die dann im Darknet für ein paar Dollar verhökert werden. Erst vor kurzem sind Telefonnummern und weitere personenbezogene Daten von 533 Millionen Facebook-Nutzern im Internet aufgetaucht – darunter auch die Handynummer von Mark Zuckerberg.
Cybersicherheitsexperten sehen die Entwicklung mit Sorge. Denn die Daten lassen sich nicht nur für unerwünschte Telefonwerbung nutzen. Mithilfe der Mobilnummer könnten Cyberkriminelle auch ohne das Gerät online Textnachrichten empfangen und beispielsweise TANs für Online-Überweisungen abgreifen, wenn der Versand per SMS erfolgt.
Mobilfunknummern stellen nicht nur ein Sicherheitsrisiko dar, sondern auch eine Gefahr für die Privatsphäre. Wer in der populären Plauder-App „Clubhouse“Kontakte einladen will, muss Zugriff auf sein Telefonbuch erlauben. Man sieht etwa, welcher seiner Kontakte wie viele Freunde in „Clubhouse“hat. Dass Telefondaten ausgelesen und gespeichert werden, sehen Datenschützer kritisch. Pikant: In dem Netzwerk sind auch einige Spitzenpolitiker unterwegs, deren Handynummern womöglich auf irgendeinem US-Server landen. Dass der amerikanische Geheimdienst NSA unter anderem auch die Handynummer von Bundeskanzlerin Angela Merkel abgriff, scheint längst in Vergessenheit geraten zu sein.
Die Corona-Pandemie zeigt, welche Gefahr unentdeckte Viren für den Menschen bergen. Um künftig besser gewappnet zu sein, haben USWissenschaftler eine interaktive Datenbank entwickelt, die das Risiko der Übertragung verschiedener Viren von Tieren auf Menschen einstuft. Die in den der Nationalen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte Liste soll bei der Priorisierung helfen.
Viele Viren, die Krankheiten beim Menschen verursachen, stammen aus dem Tierreich – etwa HIV, Ebola oder Sars-CoV-2. Das Überspringen solcher Erreger vom Tier auf den Menschen wird als Spillover bezeichnet, bislang sind mehr als 250 zoonotische – aus dem Tierreich stammende – Krankheitserreger bekannt. Schätzungen gehen indes davon aus, dass hunderttausende Tierviren das Potenzial haben, auf den Menschen überzuspringen.
Angesichts dieser Bedrohung identifizierten Forscher der Universität von Kalifornien in Davis auf Grundlage einer Analyse von Studien sowie einer Befragung internationaler Experten die Faktoren, die das Spillover-Risiko solcher Viren beschreiben. Etwa, wie oft ein Erreger wie viele verschiedene Tierarten befallen kann, wie weit diese Wirte geografisch verbreitet sind, wie eng ihr Kontakt zum Menschen ist und der Übertragungsweg.
Diese insgesamt 31 Risikofaktoren bilden das Gerüst für die Datenbank „SpillOver“, die die Wissenschaftler dann mit Informationen zu 887 Wildtier-Viren fütterten. Die ersten zwölf Plätze auf dieser Liste besetzen Erreger, die bereits auf den Menschen übergesprungen sind: Lassa, Sars-CoV-2, Ebola, Seoul und Nipah halten – in dieser Reihenfolge – die vorderen fünf Ränge.
Dass Sars-CoV-2 nur auf Platz zwei rangiert, begründen die Autoren damit, dass die Liste das Potenzial für einen weiteren Spillover in der Zukunft bewerte. Zudem seien wichtige Informationen über SarsCoV-2 noch unbekannt, etwa Anzahl und Reichweite der Wirtsarten.
Generell schätzen die Forscher das Spillover-Risiko durch Coronaviren als sehr hoch ein: Allein die Top 20 der Liste enthalten fünf Coronaviren, die noch nicht auf den Menschen übergegangen sind. Insgesamt sind etwa ein Drittel der 50 Viren mit dem höchsten Übertragungsrisiko Coronaviren.
„Sars-CoV-2 ist nur ein Beispiel für viele tausend Viren, die das Potenzial haben, von Tieren auf den Menschen überzuspringen“, sagt Zoë Grange, Erstautorin der Studie. „Wir müssen virale Bedrohungen mit dem größten Spillover-Risiko nicht nur identifizieren, sondern auch priorisieren, bevor es zu einer weiteren verheerenden Pandemie kommt.“