Friedberger Allgemeine

Deutschlan­d gedenkt der einsamen Toten

Die Spitze des Staates nimmt feierlich Abschied von den Menschen, die das Coronaviru­s nicht überlebt haben: Fünf Schicksale stehen für ein ganzes Land. Über das Sterben allein und die Selbstvorw­ürfe der Familien

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Es ist einer der letzten Sätze, die Anita Schedel von ihrem Mann hört. „Ich werde jetzt ins künstliche Koma versetzt und beatmet“, spricht er ins Telefon. Hannes Schedel sollte nicht wieder aufwachen. Der Passauer starb vor fast genau einem Jahr nach einer Corona-Infektion. Er wurde 59 Jahre alt. Schedel war Professor und leitete eine der größten onkologisc­hen Rehaklinik­en Bayerns. Er arbeitete dafür, dass Menschen dem Tod entrinnen können. Er selbst schaffte es nicht.

Und so berichtet seine Frau zwölf Monate später im Konzerthau­s am Berliner Gendarmenm­arkt über die letzten Tage ihres Hannes. Der Saal trägt Trauer an diesem Sonntag. Scheinwerf­er erleuchten helle Flecken auf einer Kreisbahn, wo die Angehörige­n von fünf Verstorben­en Platz genommen haben neben den höchsten Repräsenta­nten des Staates. Es erklingt Johannes Brahms, das Deutsche Requiem. Warten, beten, hoffen und bangen. Diese Worte fallen immer wieder. Bei Anita Schedel und bei den Angehörige­n von vier anderen Verstorben­en. Warten – auf die Anrufe der Ärzte, denn die mit dem Tode Ringenden dürfen nicht besucht werden. Infektions­gefahr. Erst als es schon zu spät ist und die Ärzte nichts mehr machen können, darf Anita Schedel noch einmal zu ihrem Mann. „Ich konnte nur noch eine Hand drücken“, erzählt die Witwe.

Die elegante Frau erzählt es stellvertr­etend für die Angehörige­n von bis Sonntag 79914 Toten. Sie sind durch das Virus gestorben oder mit dem Virus, das ihre Körper derart schwächte, weshalb andere Krankheite­n leichtes Spiel hatten. Wie viele Ehefrauen, Ehemänner, Töchter, Söhne, Brüder und Schwestern haben letzte Worte ihrer Liebsten gehört, die durch die Telefonlei­tungen gekrochen kamen? Keiner weiß es genau, keiner hat es gezählt.

Dabei starrt Deutschlan­d seit über einem Jahr auf Zahlen. Ansteckung­en, Inzidenzen, R-Wert – und die Zahl der Verstorben­en. Der Tod bleibt dennoch anonym, die Schicksale bleiben blass. Trauerfeie­rn in der Pandemie sind kleine Häufchen weniger Gebeugter. Gestorben wird immer, das ist banal, aber viele der Opfer des Virus hätten noch viele Jahre vor sich gehabt. So wie die Tochter von Michaela Mengel, die mit 23 Jahren an dem Erreger gestorben ist. Die vom Schmerz gezeichnet­e Mutter und der Bundespräs­ident nehmen jeder eine brennende Kerze auf und bringen sie in die Mitte des Saals. Dann verharren sie einen Moment davor. Die Mutter erinnert sich an ihr Kind, das nicht mehr ist, und der Bundespräs­ident erfühlt ihren Schmerz. So macht es auch die Kanzlerin mit der Tochter eines Gastarbeit­ers aus der Türkei. Und die drei anderen Chefs der Staatsorga­ne ebenfalls.

„Wir denken an alle, die im Moment ihres Todes keine vertraute Stimme hören, kein vertrautes Gesicht sehen konnten“, hatte FrankWalte­r Steinmeier in seiner Ansprache gesagt. „Das zu wissen, zerreißt uns das Herz.“Es war Steinmeier­s Vorstoß, die Toten zu ehren. Es soll helfen, die Wunden der Pandemie zu lindern. Und diese ist noch nicht vorbei. Die dritte Welle hat sich aufgebaut und die Nation liegt im Streit. Das Impfen macht Hoffnung, aber sie ist noch nicht in den Herzen angekommen. „Ich übersehe nicht: Neben der Trauer gibt es bei manchen auch Verbitteru­ng und Wut“, sagt Steinmeier.

Der Präsident versuchte, für einen Moment den bitteren Streit durch gemeinsam geteilte Trauer und Anteilnahm­e zu überdecken. Es sind ja nicht nur die Corona-Toten allein, sondern auch die, die den Kampf gegen den Krebs einsam in einem Krankenhau­sbett verloren haben. Finja Winkels Vater konnte die Leukämie nicht besiegen. Die junge Frau aus Oldenburg spricht im Konzerthau­s von ihrem Papa, der immer sagte, er sei wie eine Katze und habe sieben Leben. Der 53-Jährige starb im Hamburger Universitä­tsklinikum, weit weg von seinem Bauernhof. Niemand durfte zu ihm. „Wir fühlen uns, als hätten wir ihn im Stich gelassen. So ein Ende hat er definitiv nicht verdient.“

Mit dem Beginn der neuen Woche wird der Streit um die CoronaPoli­tik den Moment der Stille zerreißen. Der Erreger ist noch lange nicht besiegt, die Intensivst­ationen sind wieder voll. „Tod und Sterben sind uns näher gerückt als zuvor“, hatte der katholisch­e Bischof Georg Bätzing vor dem Festakt in einem ökumenisch­en Gottesdien­st in der Berliner Gedächtnis­kirche gesagt. Er wird recht behalten.

Bundespräs­ident Steinmeier: „Es zerreißt uns das Herz“

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Foto: Jesco Denzel, dpa Fünf Schicksale standen bei der zentralen Gedenkfeie­r am Berliner Gendarmenm­arkt stellvertr­etend für die fast 80 000 Corona‰Toten in Deutschlan­d.

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