CoronaFrust bei den Jüngsten
Kinder und Jugendliche leiden unter den Einschränkungen der Pandemie. Einsamkeit, Langeweile und Familienstreit belasten den Gefühlshaushalt. Wie eine junge Familie die Pandemie erlebt und was Politiker verbessern wollen
Augsburg Kurz vor 8 Uhr an einem Schultag. Die achtjährige Katharina Jakob frühstückt mit ihrer Mama Anna und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Johanna. „Mama, wann wird Corona wieder weniger?“, fragt Katharina. Ein kurzes Stocken. Die Antwort bleibt die Mutter schuldig. Sobald der Esstisch abgeräumt ist, wird die Küche zum Klassenzimmer. Katharina besucht die zweite Klasse, das Hin und Her zwischen Distanz- und Präsenzunterricht gehört zu ihrem Alltag. Ein ganz normales Schuljahr hat das Mädchen aus dem Landkreis Augsburg bisher nicht erlebt. „Keiner hat mehr die Energie, die Kinder zu motivieren“, sagt Mutter Anna Jakob. Sie klingt erschöpft.
Nicht nur Katharinas Familie ist nach einem Jahr Pandemie geschlaucht. Mehr als 128000 Beratungen führte das Sorgentelefon „Nummer gegen Kummer“im vergangenen Jahr. Kinder, Jugendliche und Eltern wählten die Nummer, weil ihnen die Corona-Situation zu schaffen machte. Einsamkeit, Langeweile, Familienstreit und die psychische Belastung waren die Gründe, warum Kinder und Jugendliche die Beratungsstelle anriefen oder online anschrieben. Mehr als 33 000 Eltern, so viele wie noch nie zuvor, meldeten sich wegen der Betreuungssituation, des Distanzunterrichts, der gesundheitlichen und finanziellen Folgen oder der Konflikte innerhalb der Familie beim Elterntelefon. Aus den Anrufen entwickelten sich 18000 Eltern-Beratungen. Das sind 64 Prozent mehr als noch im Jahr 2019.
Katharinas Mutter kann diese Sorgen gut verstehen. Sie ist selbstständige Maßschneiderin für Brautund Festtagsmode. Im Moment ruht ihr Geschäft. Brautkleider sind in der Pandemie wenig gefragt und Nähkurse bei den geltenden Regeln nicht möglich. Das Schlimmste sei, dass sie nicht planen könne, weder beruflich noch familiär, sagt die 36-jährige Mutter. Denn um ihr Unternehmen aus der Krise zu führen, müsste sie erst wissen, wie es für ihre Töchter weitergeht.
Das Institut für Sozialpädagogische Forschung in Mainz führte unter den 559 Jugendämtern in Deutschland eine Umfrage zu den Folgen der Corona-Pandemie für
Kinder, Jugendliche und Familien durch. Es kommt zum Ergebnis, dass Kinder zwischen sechs und 13 Jahren besonders stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Die Folgen für die Bildung sind laut der Studie schon längst ein Mittelschichtproblem.
Das zeigt sich auch bei Familie Jakob: Die kleine Schwester hüpft durchs Zimmer, wenn Katharina ihre Rechenaufgaben löst. „Das soziale Lernen in der Klasse fehlt sehr“, sagt Jakob. Große Wissenslücken befürchtet die Mutter für die Tochter aber noch nicht.
„Wir sind privilegiert“, gesteht Anna Jakob. Ihr Ehemann hat trotz Kurzarbeit ein sicheres Einkommen und sie kann die Betreuung der
Töchter übernehmen. Das Einfamilienhaus mit Garten bietet der jungen Familie Freiheit trotz geltender Beschränkungen. Dennoch, die Kinder seien frustriert, beschreibt die Mutter die Situation. Vor den beiden Töchtern versucht sie, keine Angst vor dem Coronavirus zu verbreiten. „Mein Mann und ich legen großen Wert darauf, sie nicht zu belasten.“Psychische Auffälligkeiten blieben bei den Mädchen zum Glück bisher aus.
Das ist aber nicht in allen Familien so. Unicef veröffentlichte vor kurzem den Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland im Jahr 2021. Der Report mit dem Titel „Kinder – unsere Zukunft!“warnt vor gravierenden Konsequenzen für das kindliche Wohlbefinden. Die Corona-Pandemie verschärft bestehende Probleme und stellt Eltern vor große Herausforderungen, ihre Kinder bestmöglich zu unterstützen. Laut des Berichts waren schon vor der Pandemie mehr als jedes fünfte Mädchen und nahezu jeder siebte Junge im Alter von 15 Jahren unzufrieden mit seinem Leben.
Nach einem Jahr Corona-Pandemie sind die Zahlen gestiegen. Ein solches Bild zeichnet zumindest die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Vier von fünf Kindern und Jugendlichen fühlen sich demnach durch die Corona-Pandemie belastet. Fast jedes dritte Kind ist infolge der Pandemie psychisch auffällig – so lautet das
Ergebnis der breit angelegten Studie.
Sind Kinder und Jugendliche also die Vergessenen der Corona-Pandemie? Der Freie-Wähler-Landtagsabgeordnete Fabian Mehring hält nichts von der Debatte, wer der größere Krisenverlierer ist. „Zu Recht wurde in der Pandemie viel über die Senioren und über die Wirtschaft gesprochen, aber jetzt muss die Jugend und deren Zukunft zum Thema werden“, sagt er.
Mit einem Antrag fordern Freie Wähler und CSU einen Ausbau der psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgungsangebote für Kinder und Jugendliche in Bayern. Im Moment wird das Vorhaben im Landtag im
Ausschuss für Arbeit und Soziales behandelt. „Die soziale Belastung von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie ist enorm“, sagt Mehring. Der Antrag ist nur eine von vielen geplanten Maßnahmen, die Kindern und Jugendlichen während und nach der Pandemie helfen soll.
Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Lorenz Bahr, fordert ebenfalls mehr Unterstützung für die Jugend. Die Corona-Pandemie werfe die Kinder- und Jugendhilfe um fünf Jahre zurück, erklärt Bahr. „Keiner kann die persönliche Entwicklung in zwei Jahren Kindheit, die verloren gegangen sind, nachholen.“Die Aufgabe der Jugendämter sei es, in den kommenden Monaten zusätzliche Angebote zu bieten, um Kindern, Jugendlichen und Familien wieder Halt im Alltag zu geben.
Mehr Kinderschutz will auch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ermöglichen. Im Bundestag wurde die Änderung des Achten Sozialgesetzbuchs
CoronaFolgen sind längst ein Mittelschichtproblem
Nun soll die Prävention gestärkt werden
bereits verabschiedet, in den kommenden Wochen muss es den Bundesrat passieren. „Ich hoffe sehr, dass es noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen wird“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr, die den Entwurf mit ausgearbeitet hatte.
Bereits vor der Corona-Krise wurde an einer Aktualisierung des Gesetzes gefeilt. Die Pandemie habe die Situation vieler Familien verschärft, sagt Bahr. „Es ist jetzt umso wichtiger, die Belange von Kindern und Jugendlichen zu schützen“, erklärt die Augsburger Abgeordnete. Mit der Überarbeitung des Gesetzes werde der Staat nicht nur seiner Fürsorgepflicht gerecht, sondern auch Partner von Kindern und Jugendlichen. Es gehe um besseren Kinderschutz, und zwar für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland, fasst die SPD-Politikerin das geplante Sozialgesetz zusammen.
Die Gesetzesänderung sieht unter anderem eine Stärkung der Kitas, ein breiteres Freizeitangebot und eine bessere Prävention vor. Damit profitieren nicht nur Kinder aus einem schwierigen Umfeld, sondern auch Kinder wie Katharina und ihre Schwester. Im Moment hat Katharina nur einen Wunsch: Sie will zum Turnen. Aber das ist erst möglich, wenn Corona wieder weniger ist.