Instanz im jüdisch-geistigen Leben
Rachel Salamander gründete die Münchner Literaturhandlung als Ort der Begegnung für Juden und Nichtjuden. Nur so konnte sie im Land der Katastrophe leben
Ihre Startbedingungen ins Leben waren die denkbar schlechtesten, aber wer Rachel Salamander heute erlebt, sieht eine eindrucksvolle Frau vor sich: klug, beredt, charmant und mit 72 Jahren zurückblickend auf ein Lebenswerk, mit dem sie „maßgeblich zum Wiederaufbau des jüdischen intellektuellen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland beigetragen hat“. So sieht es nicht nur die Jury des Heinrich-Heine-Preises, den sie am Sonntag erhalten wird.
Doch zunächst zu den Startbedingungen: Geboren 1949 in einem Lager für Displaced Persons in Deggendorf als Kind jüdischer Emigranten, die den Nazi-Terror in Turkmenistan überlebt hatten, inmitten einer „Trauergemeinde aus extrem gezeichneten Menschen“, deren ganze Welt vernichtet worden war. Sorglose Kindheit ist an solch einem Ort nicht möglich, zumal die Mutter starb, als Rachel Salamander drei Jahre alt war. Aber wenn Salamander über diese ersten Jahre ihres Lebens in Interviews spricht, dann fallen Worte wie „Zuneigung“und „Geborgenheit“. „Für diese Menschen waren wir Kinder ein Versprechen in die Zukunft.“
Der Bruch kam mit acht Jahren, als sie mit Vater und älterem Bruder in eine Sozialwohnung in München-Neuhausen umzog. Sie, die bisher nur jiddisch gesprochen hatte, war nicht nur fremd in der Großstadt, sondern auch in der Sprache. „Oft habe ich mich mit meinem Bruder auf eine abgelegene Ecke des Schulhofs zurückgezogen und 20 Minuten nur geweint“, ist einer der Sätze, die unter die Haut gehen, wenn man Rachel Salamander von dieser Zeit erzählen hört. „Integration ist eine knallharte Sache“, kommentiert sie diese Bedingungen heute.
Und damit ist es Zeit, auf das Lebenswerk dieser Frau zu sprechen zu kommen: Denn Zuflucht bot ihr die Literatur, in der sie Lebensentwürfe, Gedanken und Gefühle fand, mit denen sie diese Welt besser verstehen konnte. Sie studierte in München Germanistik, Philosophie und Romanistik und gründete 1982 die Literaturhandlung: ein
Raum, in dem jüdische Literatur und Bücher über das Judentum zu finden waren, viel mehr aber noch ein jedem zugängliches Forum für die Begegnung von Juden und Nichtjuden – das in einer Zeit, in der beide Gruppen noch ein bleiernes Vakuum trennte.
Rachel Salamander, die mit einem Journalisten verheiratet ist, wurde zu einer Instanz im jüdisch-geistigen Leben über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus. Sie wurde Herausgeberin der Literarischen Welt, leitete das Literaturforum der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und war mehrmals im Gespräch als Kulturreferentin der Stadt München. Nur indem Juden und Nichtjuden ihre Geschichten auf den Tisch legten, sagt sie in einem Interview mit der Zeit, sei es ihr als Jüdin möglich gewesen, im Land der Katastrophe zu leben. Birgit Müller-Bardorff