Tausende Leben miteinander verwoben
Mehr als 20 000 Beschäftigte zählte Augsburgs Textilindustrie einst. Über die Jahrzehnte hinweg schlossen fast alle Betriebe. Viele der Arbeiterinnen und Arbeiter können sich bis heute nicht ganz davon lösen. Wie schafft man nach so einer Erfahrung den Ne
Augsburg Wenn Adalbert Kraus an den Webmaschinen hantiert, ist der 85-Jährige in seinem Element. Kraus steht in einer hellen Halle, in der früher hunderte Webmaschinen ratterten. Heute ist sie Teil des Staatlichen Textil- und Industriemuseums Augsburg, kurz tim. Drinnen riecht es nach Holz und Maschinenöl, fast wie auf einem alten Dampfschiff. Sobald eine der Maschinen läuft, ist es sehr laut. Das Schiffchen mit der Fadenspule schießt hin und her, sodass nach und nach die Stoffbahn entsteht. Alles läuft, wie es laufen soll, das sieht Adalbert Kraus auf einen Blick. Er kennt den Ablauf seit rund 70 Jahren. Damals, als junger Mann im Augsburg der 1950er Jahre, hat Kraus als Weber gearbeitet. Auch jetzt, als Ehrenamtlicher im Museum, achtet er genau darauf, wann der alte Faden aufgerollt ist und er die Maschine stoppen muss. Blitzschnell ist der neue Faden angeknotet und der Webstuhl rattert weiter.
Ganz so schnell wie früher, sagt Kraus, sei er heute nicht mehr. Routiniert ist er aber immer noch. Eigentlich hat Kraus Täschner gelernt, hätte Taschen, Koffer und Gelbeutel machen sollen. Doch da gab es in Augsburg schon in den 50ern kaum mehr Stellen. Also ging er in die Weberei, zu Riedinger, einem bekannten Augsburger Unternehmen. 1953 war das, da war er erst 17 Jahre alt. Laut, warm, stickig, das waren seine ersten Eindrücke vom neuen Arbeitsplatz.
Die Weberei wurde sein Leben. Für die Arbeitskräfte in den Fabriken war es ein anstrengender Job, in den staubigen Hallen, mit Schichtarbeit und kurzen Pausen, die oft kaum zum Essen reichten. Die Arbeit war hart – trotzdem oder gerade deswegen ist sie in Adalbert Kraus’ Erzählung noch so nahe. Wenn er in seiner ruhigen Art mit kunstvollen Pausen von den lauten Sälen und der stickigen Luft spricht, klingt es, als käme er gerade von dort. Als habe er gerade noch in den Websaal geschaut, den er jetzt beschreibt. Kraus hat sich mit seiner Arbeit identifiziert, sie ist über die Jahrzehnte ein Teil von ihm geworden. Wie bei so vielen Menschen, die einst in Augsburg in die Webereien, Spinnereien, Färbereien gingen, deren Leben die Textilindustrie geprägt hat. Tausende Menschen im Rhythmus einer Branche. Tausende Leben miteinander verwoben.
Das Ende dieser großen, stolzen Industrie ereignete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht über Nacht. Es hatte sich lange abgezeichnet, erst kriselte eine Firma, dann ging bei der nächsten das Sparen los, bald hörte man von Entlassungen. Ein Schock war es für viele trotzdem. Egal wie sehr sie sich anstrengten, wie sehr sie protestierten – am Ende sperrte eine Firma nach der anderen zu. Und all die Menschen standen vor der Frage: Wie soll es nun bloß weitergehen?
Es ist eine Geschichte, wie sie nicht nur in Augsburg tausendfach passiert ist. Dass ganze Branchen nicht mehr rentabel sind, dass woanders billiger produziert wird, dass Menschen daran verzweifeln – es ist ein Schicksal, das schon viele Industrien in vielen Ländern und vielen Jahrzehnten ereilt hat, ob nun die Kumpel im Ruhrgebiet oder die Arbeitskräfte im US-amerikanischen Rust Belt, Rostgürtel genannt wegen seiner Schwerindustrie. Doch egal wie oft es passiert – für die Menschen, die es erleben müssen, bleibt es immer eine Katastrophe.
Davon ahnte Adalbert Kraus nichts, als er 1953 zur Buntweberei Riedinger kam. Von Anfang an war Kraus geschickt mit den Maschinen. Bis zum Saalmeister ging es die Karriereleiter hinauf, in drei Websälen war er so etwas wie der Schichtleiter
trug die Verantwortung dafür, dass alles reibungslos lief. Zu tun gab es eigentlich immer etwas. Manche Arbeitstage waren so lang, erinnert sich Kraus, dass seine Frau irgendwann gemeint habe: „Nimm dein Bett mit, brauchst gar nicht mehr kommen.“
Adalbert Kraus war trotzdem gerne in der Fabrik. Dort, erinnert er sich, habe er einen Zusammenhalt gespürt, den er sehr schätzte. Die „Textiler“waren eine starke Gruppe im Augsburg der 1960er Jahre. Zeitweise arbeiteten rund 20000 Menschen in diesem Bereich. Und rund um die Stadt gab es viele weitere Orte, an denen ebenfalls gewebt, gestrickt, gefärbt und veredelt wurde.
Der Niedergang der Textilindustrie zeichnete sich jedoch schon ab den 1960ern ab, auch in Augsburg. Dass es irgendwann vorbei sein würde, wurde mit der Zeit immer offensichtlicher, wie Karl Borromäus Murr schildert, der Leiter des Textilmuseums in Augsburg. „Wer die Zeichen lesen konnte, dem wurde in den 60er Jahren schon langsam bewusst, dass man sich mindestens neu aufstellen muss – dass hier ein großer Strukturwandel heranrollt.“Denn mittlerweile hatten die meisten Menschen wieder genug Klei
und Heimtextilien, die Nachkriegsnachfrage sank. Und im Ausland ließ sich jetzt günstiger herstellen. Erst verlagerten Betriebe ihre Produktion nach Osteuropa, dann in die Türkei, später nach Asien. Zunächst konnten sich die Augsburger Betriebe mit Investitionen in moderne Maschinen, dem Ruf guter Qualität und einer noch guten Auftragslage halten. Doch die Krise der 1980er und 1990er ließ sich nicht aufhalten. Mit der Zeit ging einem nach dem anderen die Luft aus.
Obwohl sich das Ende immer deutlicher abzeichnete, kam es doch für viele unerwartet. Und es traf viele Menschen sehr hart, auch in Augsburg. Adalbert Kraus sagt heute: „Wenn man mit so was jahrelang zu tun hat, dann ist es einfach ein Stück Leben. Es ist ein Stück Leben, das plötzlich vorbei ist, wo einfach nichts mehr geht. Sie stehen auf Deutsch gesagt auf der Straße.“Weil er in Rente gehen konnte, sei es bei ihm nicht so schlimm gewesen wie bei den Jüngeren, die noch weitermachen mussten. Für die sei die Situation nicht gut gewesen.
Willi Specht hat einen anderen Weg als Kraus gewählt. Specht ist heute 82 Jahre alt, ab 1970 war er als Textiltechniker bei Riedinger beschäftigt. Als Leiter der Musterstriund ckerei arbeitete er eng mit der Abteilung Design zusammen und musste sich bei jeder neuen Kollektion fragen: „Haben wir die Maschinen, um das Produkt herzustellen?” Als Riedinger 1980 schloss, stand Willi Specht vor der Frage, wie es weitergehen sollte. Er hatte mit seiner Frau drei Kinder, gerade hatte die Familie ein Haus gebaut. Specht gelang in dieser schwierigen Phase der Wechsel in ein noch produzierendes Unternehmen. Viele, mit denen er gearbeitet hat, seien arbeitslos geworden oder direkt in Rente gegangen, erinnert sich Specht.
Je schwerer die Krise die gesamte Branche erfasste, desto weniger Jobs gab es. Es war eine Krise, die auch andere Industriesparten traf. Die Arbeitslosigkeit lag in Augsburg in den 1990ern teilweise über zwölf Prozent, auch bedingt durch die Probleme im Textilbereich.
Einer, der bei der Suche nach einem neuen Textiljob half, war damals Siegfried Paintner. Der gelernte Maßschneider arbeitete ab 1975 hauptamtlich bei der Gewerkschaft Textil und Bekleidung in Augsburg. Der heute 79-Jährige berichtet gerne von der Arbeit bei der Gewerkschaft. Dann blitzen die Augen des schlanken Mannes, der bis heute voller Leidenschaft von den Kämpdung fen berichtet, die er einst für bessere Arbeitsbedingungen ausgefochten hat. Kommt das Gespräch auf den Niedergang der Branche, wird aus dem leichten Schalk in seiner Stimme eine Wehmut, die auch über 30 Jahre später noch nicht verschwunden ist. Denn an den Abschwung der gesamten Branche mit dem Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre erinnert sich Paintner noch gut. „Der hat unwahrscheinlich geschmerzt.“Am Ende waren so viele Menschen ohne Arbeit, dass auch er mit seinen Vermittlungsversuchen nicht mehr helfen konnte.
Willi Specht, der frühere Riedinger-Mitarbeiter, konnte bis zur Rente beim renommierten Strumpfhersteller Elbeo bleiben, auch als immer mehr Produkte im Ausland hergestellt wurden. Aus seiner Kindheit brachte er eine seltene Fähigkeit mit: Er war im heutigen Serbien und später in Kroatien aufgewachsen, sprach Serbokroatisch und konnte sich in Betrieben in Südosteuropa gut verständigen. So reiste er für die Qualitätskontrolle oft zu ausländischen Firmen. Aus einem, der sich in seinem Betrieb bestens auskannte, wurde einer, der auf einmal viel reiste, selten zu Hause war und doch immer in seiner Branche bleiben konnte.
Für viele andere kam das nicht infrage. Sie standen in den 1980ern und 1990ern vor einem Abgrund. Heute ist ist das lange her – und doch immer noch zu spüren. Zum Beispiel an den Renten vieler Menschen, die in der Textilindustrie gearbeitet haben, sagt Siegfried Paintner, der frühere Gewerkschafter. In der Textilindustrie war das Lohnniveau im Verhältnis zu anderen Branchen ohnehin nicht besonders hoch. Wenn man dann auch noch frühzeitig in Rente gehen musste, fehlten oft Einzahlungsjahre. Genauso, wenn eine lange Arbeitslosigkeit folgte. Das schlägt sich dann aufs Rentenniveau nieder.
Gespräche mit Menschen, deren Leben die Textilindustrie geprägt hat, drehen sich automatisch irgendwann um eine Frage: Wer hatte Schuld an deren Ende? Manche finden ihre Erklärung in den Vorgängen, die bei einigen Unternehmen zum Schluss ähnlich liefen: Wurde eine Firma unrentabel, wurde verkauft, was zu verkaufen war – das Unternehmen in diesem Sinne quasi von „den Investoren“ausgesaugt – und dann wurde die Firma in die Insolvenz geschickt. Die Verantwortlichen: Banken und Immobilienunternehmen, manchmal auch der Staat.
Andere sagen, der Niedergang sei ein abgekartetes Spiel gewesen, der Staat habe lieber die Maschinenindustrie unterstützen wollen als die Textilindustrie. So meinen manche in Augsburg, der Staat hätte ihren Produktionszweig retten können – wenn er nur gewollt hätte. Wieder andere sagen, das alles sei Unsinn – Stadt, Bundesland oder Staat hätten sich gegen einen so umfassenden globalen Strukturwandel niemals behaupten können. Und die einzelnen Unternehmen erst recht nicht.
Was von all dem stimmt, ist heute schwer zu sagen – vielleicht stimmt alles ein bisschen. Denn klar ist: In dieser beispiellosen Krise gab es viele einander entgegenstehende Interessen. Ob eine Rettung aber gelungen wäre, hätten nur alle an einem Strang gezogen, lässt sich heute nicht mehr sagen.
Nach 48 Jahren im Textilgeschäft entschied sich Adalbert Kraus, in Rente zu gehen. Ganz in Ruhe gelassen haben ihn die Maschinen aber nie. Bald klingelte bei ihm das Telefon: Eine Gruppe früherer Textilarbeiter
Das Ende hatte sich lange abgezeichnet
Aus dem Beruf wurde ein Ehrenamt
baue Webstühle ab, für das neue Museum. Ob er helfen wolle?
Mit dem Förder- und Freundeskreis des tim hat Adalbert Kraus das Museum mit aufgebaut. Bis heute gibt er Führungen und zeigt Interessierten, wie die Webstühle funktionieren. Auch Willi Specht ist ein tim-Urgestein. Bei den Strickmaschinen kann er zu jedem Gerät etwas sagen, überall Besonderheiten hervorheben und dabei noch ein paar störende Flusen wegzupfen.
Siegfried Paintner, der frühere Gewerkschafter, leitet schon seit Beginn des tim den Museumsshop, heute ein Vollzeitjob im Ehrenamt. Aus einer Ecke des Ladens ist oft ein lautes Rattern zu hören, dann nähen einige Beschäftigte dort Geschirrtücher ein, die auf den Museumsmaschinen gewebt wurden. Paintner steht manchmal daneben und versieht die fertigen Tücher mit Etiketten oder legt sie ordentlich zu Stapeln zusammen. Das Credo des umtriebigen Shopleiters: Verkauft wird nur, was in der Region, mindestens aber in Deutschland hergestellt wurde. Und das ist eine ganze Menge Gewebtes, Gestricktes und Bedrucktes – auch heute noch.
Dieser Artikel ist Teil des multimedialen Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, eine Kooperation unserer Redaktion mit der Deutschen Journalistenschule. Weitere Geschichten zur Augsburger Textilindustrie finden Sie im Internet unter www.textilesaugsburg.de