Friedberger Allgemeine

Kriegsherr wider Willen

Eigentlich wollte Joe Biden den Einsatz in Afghanista­n so schnell wie möglich beenden. Doch nun trägt der Präsident die politische Verantwort­ung für mehr als ein Dutzend tote US-Soldaten. Weitere Anschläge drohen

- VON KARL DOEMENS

Washington Es ist der Moment, den viele vorausgeah­nt und Joe Biden wohl am meisten gefürchtet hat: Um nach 20 langen Jahren weitere amerikanis­che Opfer am fernen Hindukusch zu vermeiden, hat der Präsident gleich zu Beginn seiner Amtszeit den Abzug aller Truppen aus Afghanista­n befohlen. Nun verlieren genau dabei viele Menschen ihr Leben. Wenn man dem Präsidente­n in den vergangene­n Tagen genau zugehört hat, dann hat der mächtigste Mann der Welt seine Bürger vorsichtig auf dieses tragische Paradox vorbereite­t: „Ich kann nicht garantiere­n, dass der Ausgang ohne Risiko oder Verluste sein wird“, hat er schon am vergangene­n Freitag gesagt. Am Sonntag warnte er, dass Terroriste­n einen Anschlag auf Zivilisten und Soldaten am Kabuler Flughafen verüben könnten: „Eine Menge kann noch schiefgehe­n.“

Doch nun, da die abstrakte Gefahr zur grausamen Realität geworden ist und die Fernsehsta­tionen seit Stunden Bilder von blutüberst­römten Menschen vor dem Tor des Airports zeigen, die auf Bahren oder in Schubkarre­n transporti­ert werden, fühlt es sich doch anders an. Als Biden am späten Nachmittag ans Rednerpult im East Room des Weißen Hauses tritt, muss er über ein Fiasko sprechen, das die Präsidents­chaft des 78-Jährigen überschatt­en wird.

Selbstmord­attentäter der islamistis­chen Terrormili­z IS haben mindestens hundert Menschen – darunter 13 Angehörige des US-Militärs – in den Tod gebombt. Ein Blutbad dieses Ausmaßes haben die Amerikaner in Afghanista­n seit einem Jahrzehnt nicht mehr erlebt. In der Innentasch­e seiner Anzugjacke trägt Biden stets eine Karte bei sich, auf der die Opferzahle­n aus Afghanista­n vermerkt sind. Insgesamt 2400 USSoldaten sind dort seit Beginn des Krieges im Jahr 2001 ums Leben gekommen. Nun muss der Präsident, der dieses Leid eigentlich beenden wollte, die Zahl nach oben korrigiere­n – unter seiner eigenen politische­n Verantwort­ung.

Es gehört zum Dilemma von Joe Biden, dass der Afghanista­n-Krieg weitgehend aus dem Bewusstsei­n der Amerikaner verschwund­en war, bis der Präsident im Frühjahr den definitive­n Rückzug zum 31. August verkündete. Kein einziger USSoldat wurde im vergangene­n Jahr von den militant-islamistis­chen Taliban getötet. Das war wohl die Gegenleist­ung für einen Deal mit ExPräsiden­t Donald Trump, der den amerikanis­chen Abzug versprach. Vorbereite­t hatte er dieses gewaltige Manöver nicht, als er drei Monate vor dem ursprüngli­ch versproche­nen Datum aus dem Amt schied. Im Gegenteil stoppte er die Visavergab­e an afghanisch­e Ortskräfte. So erbte Biden das schwierigs­te letzte Kapitel einer zwanzigjäh­rigen Tragödie, die drei Präsidente­n vor ihm nicht zu lösen vermochten. Und seither ist der Konflikt zu seinem Problem geworden.

Von der beinahe brutalen Nüchternhe­it und Kühle, mit der der Präsident seit Mitte des Monats Kritik an der chaotische­n Durchführu­ng des Einsatzend­es zurückgewi­esen hat, ist nichts zu spüren, als Biden nun das Wort ergreift. „Es war ein harter Tag“, beginnt er eine emotionale Ansprache mit belegter Stimme. Mehrmals verhaspelt er sich. „Aufgebrach­t und todunglück­lich“seien seine Frau Jill und er, sagt er und spricht den Angehörige­n der getöteten „Helden“sein Beileid aus. Da stehen Tränen in seinen Augen.

Nach ein paar Minuten findet Biden in die Rolle des Oberkomman­dierenden zurück. Mit scharfem Ton droht er den Verantwort­lichen des Massakers blutige Vergeltung an: „Wir werden euch nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen. Wir werden euch jagen und euch dafür zahlen lassen.“Da klingt der Anti-Kriegs-Präsident plötzlich genauso wie sein Vor-Vor-Vorgänger George W. Bush, der den Einsatz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann. „Wir werden euch jagen und euch dafür zahlen

Terroriste­n abschrecke­n.“Mehr als 100 000 Menschen haben die Amerikaner und ihre Verbündete­n seit dem Fall Kabuls am 14. August aus Afghanista­n ausgefloge­n. Am Flughafen, vor dessen Südtor sich die verheerend­en Anschläge ereigneten, haben sie eine der größten Luftbrücke­n der Geschichte aus dem Boden gestampft.

So beeindruck­end sind die Zahlen der in den vergangene­n Tagen geretteten Menschen, dass mancher Kommentato­r in den USA schon mutmaßte, langfristi­g könne Biden trotz der massiven medialen Kritik am Chaos und der Verzweiflu­ng rund um den Flughafen bei den kriegsmüde­n Amerikaner­n vielleicht doch damit punkten, dass er den endlosen Einsatz in Afghanista­n beendete. Im Grunde schien der rasante Kollaps der afghanisch­en Armee Bidens Argument zu bestätigen, dass die Schlacht am Hindukusch nicht zu gewinnen sei. Der Terroransc­hlag vom Donnerstag wiederum bestätigt seine Warnung vor den enormen Gefahren einer verlängert­en Truppenprä­senz.

Viel spricht dafür, dass die Attentäter durch die äußere Personenko­ntrolle geschlüpft sind, die eigentlich von den Taliban vorgenomme­n werden soll. Immer klarer ist auch, dass die Amerikaner nicht nur zehntausen­de afghanisch­e Ortskräfte, sondern auch zahlreiche Landsleute zurücklass­en müssen. Rund 1000 US-Bürger sollen sich noch im Land aufhalten, der Großteil will raus, doch viele kommen derzeit nicht zum Flughafen.

„Ich kenne keinen Konflikt der Geschichte, bei dem man am Ende eines Krieges jedem, der herauskomm­en will, dafür eine Garantie geben kann“, verteidigt sich der Präsident. Und als die Reporter kritisch nachhaken, argumentie­rt er erneut, es hätte nur eine Alternativ­e zum Abzug gegeben: „Ich hätte noch einmal tausende Soldaten schicken und erneut einen Krieg führen müssen, den wir – gemessen an unseren ursprüngli­chen Zielen – schon gewonnen haben.“

An einen Export der demokratis­chen Ordnung hat Biden nie wirklich geglaubt. Das eigentlich­e Ziel des Einsatzes war für ihn die Ausschaltu­ng des Al-Kaida-Führers Osama bin Laden und die Beendigung der Terrorgefa­hr für den Westen. Am dauerhafte­n Erfolg der letzten Mission freilich nährt der blutige Donnerstag offensicht­liche Zweifel: Die Amerikaner lassen ein Land im Aufruhr und am Rande des Bürgerkrie­gs zurück, in dem verschiede­ne islamistis­che Gruppen um die Macht kämpfen. „Es war Zeit, einen 20-jährigen Krieg zu beenden“, sagt Joe Biden gleichwohl mit fester Stimme, bevor er das Rednerpult verlässt und durch eine Tür des Saals verschwind­et.

Biden setzt die Evakuierun­g bis Dienstag fort

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lassen“, hatte auch er den Attentäter­n gedroht. Biden hat sich den ganzen Tag über mit seinen Sicherheit­sberatern und Militärs abgestimmt. Man habe gemeinsam entschiede­n, dass die Evakuierun­gsaktion wie geplant fortgesetz­t werden soll: „Wir lassen uns nicht durch
Foto: Evan Vucci, dpa Tief bewegt war Joe Biden, als er im Weißen Haus nach dem Anschlag in Kabul vor die Presse tritt. lassen“, hatte auch er den Attentäter­n gedroht. Biden hat sich den ganzen Tag über mit seinen Sicherheit­sberatern und Militärs abgestimmt. Man habe gemeinsam entschiede­n, dass die Evakuierun­gsaktion wie geplant fortgesetz­t werden soll: „Wir lassen uns nicht durch

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