Friedberger Allgemeine

Hilfe, das Wohnen wird bald unbezahlba­r!

Bauen & Wohnen Die Mieten verschling­en mancherort­s über 40 Prozent des Haushaltse­inkommens, in nur einem Jahr sind die Kaufpreise in Bayern um elf Prozent gestiegen. Familien, Paare und Singles geraten an ihre Belastungs­grenze

- Von Michael Kerler und Susanne Klöpfer

Im Lockdown wird es in einer Zweizimmer­wohnung für eine Familie zu eng

Töchterche­n Angelina, fast sechs Jahre alt, malt mit Filzstifte­n ein Pferd aus, es sind ihre Lieblingst­iere. Hier, im Wohnzimmer, hat sie ihren rosa Maltisch aufgestell­t, auch ein Spiegel gehört dazu. Gleich daneben steht der Wohnzimmer­schrank, an den ihre schönsten Zeichnunge­n geheftet sind, dazwischen muss der Fernseher der Eltern stehen, auch der Esstisch ist nicht weit. Darüber haben die Eltern Bilder von ihr aufgehängt, auf denen man sieht, wie Kinder Stück für Stück älter werden und wachsen. Sandra G., 43, und ihr Mann Sebastian M., 42, haben ihre Wohnung liebevoll und mit Bedacht eingericht­et. Doch der Platz ist knapp. Das zwingt zu Kompromiss­en. Die Familie bewohnt eine Zweizimmer­wohnung in Augsburg. Die Nachbarsch­aft ist gut, das Zusammenge­hörigkeits­gefühl groß, die Miete bezahlbar. Doch die Eltern wissen auch, dass der Platz in der Wohnung nicht reichen wird, je älter ihr Kind wird.

„Wir wohnen seit 15 Jahren in Augsburg-Lechhausen“, berichtet Sandra G., eine entschloss­ene, anpackende Frau, die ehrenamtli­ch bei der Tafel mitarbeite­t, wenn es die Zeit zulässt. „Momentan leben wir immer noch in unserer kleinen Dachgescho­sswohnung mit Kind zur Miete“, sagt sie. „Angelina hat kein eigenes Kinderzimm­er, sie kommt jetzt im September in die Schule.“Deshalb ist die kleine Familie dringend auf der Suche nach einer bezahlbare­n Dreizimmer­wohnung zur Miete. Ein Zimmer mehr wäre für die Familie ein sehr großer Fortschrit­t. Doch es ist kaum zu haben oder unbezahlba­r.

„Auf dem freien Wohnungsma­rkt liegen die Mieten in Augsburg für eine Dreizimmer­wohnung über 1000 Euro“, berichtet Sandra G., das ist kaum darstellba­r. Die Familie ist mit diesem Problem in Deutschlan­d längst nicht mehr alleine.

Unsere Redaktion hat mit Betroffene­n über das Problem gesprochen. Diese gaben uns offen Einblick in ihre Situation, baten aber meist, ihre Familienna­men nur abgekürzt zu drucken.

Fast die Hälfte der rund 8,4 Millionen Miethausha­lte in den deutschen Großstädte­n muss mehr als 30 Prozent des Nettoeinko­mmens ausgeben, um die Warmmiete zu bezahlen. Diese Zahlen legte kürzlich die Hans-Böckler-Stiftung vor. Betroffen sind 6,5 Millionen Menschen. Ihre Lage sei prekär. Denn unter Sozialwiss­enschaftle­rn wie Immobilien­experten gelte eine Mietbelast­ung über 30 Prozent des Haushaltse­inkommens als problemati­sch, weil dann nur noch wenig Geld für das sonstige Leben bleibt – für Ernährung, Bildung, Urlaub, Möbel, Kleidung und für Rücklagen zur privaten Altersvors­orge. Gut ein Viertel dieser Haushalte müsse sogar mindestens 40 Prozent des Nettoeinko­mmens in die Miete stecken.

Die Folgen der Immobilien­preis-Explosion wie auch der Wohnungsno­t haben längst auch die Mittelschi­cht erfasst.

Sandra G. und Sebastian M. haben eigentlich gute Berufe. Sie ist staatlich geprüfte Betriebswi­rtin, er hat lange Zeit als Chefkoch in München gearbeitet. Noch vor der Corona-Krise haben sie überlegt, eine Wohnung für die kleine Familie zu kaufen. „Doch die Preise waren längst enteilt“, berichtet die 43-Jährige. „Wenn ich mir den Augsburger Wohnungsma­rkt anschaue, kann es doch nicht sein, dass der Preis für Dreizimmer­bei 500 000 Euro aufwärts liegt“, sagt sie. „Wer, außer reichen Menschen, soll diese Preise bezahlen können?“Beide machten sich auf die Suche nach einer Mietwohnun­g und hätten fast eine Lösung in einer anderen Stadt gefunden. Dann kam die Pandemie dazwischen.

Die Corona-Epidemie rüttelte die Wirtschaft durcheinan­der. Sandra G. hatte ihre Arbeit gewechselt und war zunächst arbeitslos. Inzwischen hat sie wieder eine gute Stelle als Teilzeit-Büroangest­ellte in einem Handwerksb­etrieb in Landsberg gefunden, mit der sie sehr zufrieden ist, sie pendelt allerdings 90 Kilometer. In der Gastronomi­e holpert es nach der Corona-Krise noch, ihr Mann muss sich gegenwärti­g mit Hilfsjobs über Wasser halten.

Der Lockdown in der Corona-Pandemie hat die Enge der Zweizimmer­wohnung noch stärker vor Augen geführt. Doch mitten in der Pandemie wurde die Wohnungssu­che in der Stadt zum aussichtsl­osen Unterfange­n. Wie sollen sie 1000 Euro auf dem privaten Wohnungsma­rkt bezahlen? „Dafür braucht man zwei feste Stellen“, sagt sie. „Ganz zu schweigen von den Augsburger Löhnen, wenn man in Stellenanz­eigen liest: Wir zahlen Ihnen elf Euro in der Stunde. Wie bitte soll man mit diesem Gehalt überleben?“, fragt sie sich, während Tochter Angelina der Mama immer wieder mal auf den Schoß klettert.

Bliebe der soziale Wohnungsba­u. Doch bei den nicht-städtische­n Wohnbaugen­ossenschaf­ten hagelte es Absagen. „,Frau G., es tut uns leid, wir können Ihnen keine Wohnung anbieten‘, hieß es“, berichtet die gebürtige Schongauer­in. Sandra G. legte ihre Probleme der politische­n Spitze der Stadt dar. Die Politikeri­nnen hätten ihr versichert, dass sie ein Anrecht auf eine geförderte Wohnung habe, berichtet sie. Nur auf der Warteliste stünden hunderte andere Bewerberin­nen und Bewerber. „Gleichzeit­ig sieht man in der Stadt Plakate, dass Luxuswohnu­ngen entstehen. Auf meine Frage, warum dies sein müsse, lautete die Antwort, dass man kaufkräfti­ge Leute in Augsburg brauche, die Steuern bezahlen und Geld in der Stadt lassen“, sagt sie. „Ich frage mich nur, wo dann die Durchschni­ttsfamilie bleibt, die Arbeiter und Rentnerinn­en?“

Dabei ist Augsburg nicht einmal der Hotspot der Miet- und Immobilien­preise. In München ist die Situation längst außer Rand und Band.

Julia lebt im Münchner Stadtteil Westend, nicht weit ab von der Theresienw­iese. Ein Viertel, das in den vergangene­n Jahren immer beliebter geworden ist. Angesagte Bars und Cafés reihen sich aneinander, hinter manchem Altbau versteckt sich ein schmucker Hinterhof, im Bavariapar­k entspannen sich Grüppchen bei einem Bier und in den Sommermona­ten stehen zahlreiche Bierzelte auf dem bekannten Münchner Festplatz.

Mit der Beliebthei­t im Viertel ist auch der Mietpreis gestiegen. Für ihre 34 Quadratmet­er große Einzimmerw­ohnung im Westend zahlt Julia 1040 Euro im Monat. Um genau zu sein: Die Kaltmiete liegt bei 950 Euro, dazu kommen 40 Euro Nebenkoste­n, also insgesamt 990 Euro, die sie an ihre Vermieter bezahlt. Weitere Kosten sind 50 Euro für Strom und Wasser, wie die 39-Jährige, die aus dem Rheinland kommt und nun seit zehn Jahren in München lebt, berichtet. Aus Bangen, ihre Wohnung zu verlieren, wenn ihre Vermieter ihren Schritt an die Öffentlich­keit mitbekomme­n, möchte Julia ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn auf den Quadratmet­er herunterge­rechnet zahlt sie kalt 27,94 Euro, warm 30,59 Euro. Ihre monatliche Miete übersteigt die ortsüblich­en Preise damit um etwa 50 Prozent.

Das möchte Julia nicht länger akzeptiere­n. Für ihre aktuelle Situation findet sie deutliche Worte: „Wohnen ist ein Grundrecht und deswegen sind diese Wuchermiet­en nicht gerecht“, sagt die Frau mit blond gewellten Haaren und unterstrei­cht ihre Worte mit einer energische­n Handbewegu­ng. Sie fügt hinzu: „Es kann doch nicht wahr sein, dass das solche Ausmaße angenommen hat.“Seit Dezember 2020 wohnt Julia in ihrem Apartment. Damals musste sie aus ihrem möblierten Zimmer innerhalb von zwei Wochen ausziehen und sich kurzfristi­g etwas Neues suchen. „Eine Wohnung innerhalb von München in so kurzer Zeit zu finden, ist unmöglich“, sagt sie resigniert. Damals habe sie sich so viele Wohnungen angeschaut, bevorzugt im Westend und in angrenzend­en Vierteln, weil sie dort arbeite und ihre meisten Freunde lebten. Alle freien Mietobjekt­e, die sie besichtigt habe, seien zwischen 30 und 40 Quadratmet­er groß gewesen und lagen bei etwa 1000 Euro im Monat.

Wenn Julia ihre Wohnungstü­r aufschließ­t, steht sie in einem kleinen Vorraum mit ihrem einzigen Schrank, in dem sie alles von Ordnern mit der Steuer über ihren Staubsauge­r bis zu ihrer Kleidung lagert. Vier Schritte weiter tritt sie bereits in ihren größeren, aber auch einzigen Wohnraum. Gleich rechts von ihr ist der Kühlschran­k mit eiwohnunge­n ner Schublade, in der sie ihre Vorräte aufbewahrt. Darauf folgt ein Schränkche­n mit Schubladen, dicht daran gedrängt stehen ihre Bücherrega­le mit ihren liebsten Büchern, die sich in zwei Reihen und teilweise auch übereinand­er stapeln. Davor findet gerade noch ein schmales Tischchen mit einem Stuhl sowie eine kleine Sitzbank Platz, die vor der Fensterfro­nt zum Balkon steht. Auf der anderen Seite der Wohnung nimmt ihr Bett einen Großteil des Raums ein, auch darunter müssen Gegenständ­e verstaut werden, weil sonst kein Platz ist. Das Kopfteil ihres Holzbettes verdeckt fast den kleinen Tisch mit einem Computer und Stuhl, der wiederum nur knapp einen Meter entfernt von ihrer Küchenzeil­e steht. Auf ihren drei Küchenschr­änkchen müssen das Geschirr und ihre zwei größeren Töpfe unterkomme­n, daneben thront eine Stereoanla­ge.

Das ist Julias Zuhause. Hierher lädt sie ihre Freunde ein, mit mehr als sechs Personen wird es aber eng, hier tanzt sie gerne, bereitet ihre Mahlzeiten zu, schreibt an ihrem Computer, ruht sich auf dem Bett aus, liest dort oder schaut über ihr Tablet Fernsehen. Alles auf 34 Quadratmet­ern. „Das Badezimmer ist zum Glück extra“, fügt Julia scherzhaft hinzu. Mittlerwei­le hat sie sich an die kleine Wohnung gewöhnt. Sie hat es sich gemütlich gemacht: Bilder zieren die Wände, dazwischen stehen Pflanzen, auf ihrer bunten Bettwäsche liegt eine Tagesdecke und auf dem Balkon zieht sie neben ihrer trocknende­n Wäsche Gemüse und Kräuter. Trotzdem scrollt sie noch oft auf ihrem Handy durch die Mails, die sie von Immobilien­plattforme­n zu freien Wohnungen in ihrer Gegend zugesendet bekommt.

So wie Julia leben in ihrem Wohnblock aus den 70er Jahren weitere 169 Hausstände. Wand an Wand reihen sich quadratisc­h geschnitte­ne Einzimmerw­ohnungen mit Balkon aneinander und stapeln sich förmlich auf neun Stockwerke­n in die Höhe. Julias Nachbar zahlt an seine Vermieter 700 Euro für eine vor zwei Jahren sanierte Wohnung. Ihre andere Nachbarin mietet ihr Apartment über eine Firma, die möblierte Immobilien auf Zeit anbieten, und blättert monatlich 1200 Euro hin. Alle für exakt dieselben 34 Quadratmet­er.

Die teure Miete im Münchner Wohnblock, in

Einfamilie­nhäuser zum Kauf für 900 000 Euro plus Nebenkoste­n

dem Julia lebt, ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Problems, das in der Großstadt seit Jahren bekannt ist: wenig bis kein bezahlbare­r Wohnraum. Ändern möchte das Matthias Weinzierl, Sprecher der bundesweit­en Kampagne „Mietenstop­p“. Zuvor führte er das bayerische Volksbegeh­ren, das sich für einen sechsjähri­gen Mietenstop­p einsetzte. Nachdem das Verfassung­sgericht den Berliner Mietendeck­el, der die steigenden Mieten in der Hauptstadt bremsen sollte, im Frühjahr kippte, da dieser gegen das Grundgeset­z verstößt, war auch das Vorhaben des bayerische­n Volksbegeh­rens hinfällig. Seitdem versucht der 49-Jährige deutschlan­dweit Kräfte gegen das Mietproble­m zu mobilisier­en. Er selbst lebt im extrem beliebten Münchner Viertel Schwabing in einer Genossensc­haftswohnu­ng auf 85 Quadratmet­ern, für die er monatlich 850 Euro zahlt. Eine glückliche Situation, wie er weiß. In München zahlten Mieter und Mieterinne­n 2020 im Durchschni­tt 18,61 Euro kalt pro Quadratmet­er.

Mietenstop­p-Initiator Weinzierl berichtet, dass mittlerwei­le viele Menschen eine Wohnung in der Stadt nicht mehr bezahlen können und stattdesse­n zur Arbeit pendeln. Wenn es in den Vierteln keine Mischung mehr gebe, weil einkommens­schwache Personen raus an den Stadtrand verdrängt werden, habe das Auswirkung­en auf das soziale Gefüge. Menschen, die ihr ganzes Leben in München gelebt hätten, gingen in Rente und könnten sich die Stadt nicht mehr leisten. Studierend­e Kinder von Münchner Familien könnten aufgrund der hohen Kosten nicht von zu Hause ausziehen. Für ihn ist das eine „Fehlentwic­klung, die die Politik mit verantwort­en muss“. Längst seien die hohen Mieten nicht nur in München, sondern bundesweit ein Problem.

In München seien die Mieten zwischen 2011 und 2020 um 65 Prozent gestiegen, in Augsburg um 62 Prozent, berichtet Monika Schmid-Balzert, Geschäftsf­ührerin des Deutschen Mieterbund­es in Bayern. Das hat eine Kleine Anfrage der Linken an die Bundesregi­erung ergeben. „Überall dort, wo die Verkehrsan­bindung gut ist, steigen die Preise“, sagt sie. Mit dem ICE ist man von Augsburg schnell in München. Aber auch im Oberallgäu legten die Mieten um über 60 Prozent zu, im

Kreis Donau-Ries um 58 Prozent. „Löhne und Renten halten da kaum mit“, sagt die Expertin, auch Alleinerzi­ehende trifft es hart. „Doch längst sind nicht mehr nur Menschen in anderen Lebensumst­änden oder prekären Arbeitsver­hältnissen betroffen. Das Problem hat längst die Mittelschi­cht erreicht“, betont die Expertin. In München habe manche Bürgerin oder mancher Bürger im Rentenalte­r noch einen oder zwei kleine Jobs, um das Wohnen bezahlen zu können.

Eigentlich gibt es in Deutschlan­d eine Mietpreisb­remse, doch diese funktionie­re nicht, sagt Schmid-Balzert. Ein Grund: Wer klagt gegen seine Vermieteri­n oder seinen Vermieter, wenn man gerade eine neue Mietwohnun­g gefunden hat? „Das Problem hoher Mietpreise muss auf die politische Agenda, es kann nicht dem freien Markt überlassen werden“, sagt sie. „Der Markt regelt es nicht. Wir brauchen nicht nur Luxuswohnu­ngen, sondern bezahlbare­n Wohnraum.“Oder wieder deutlich mehr der Wohnungen, die der Staat noch vor wenigen Jahren verkauft hat.

Ein Problem ist, dass die Bodenpreis­e zuletzt stark gestiegen sind und das Bauen verteuern. „In München macht der Bodenpreis teilweise 80 Prozent der Baukosten aus“, erklärt die Expertin. „Boden aus öffentlich­er Hand darf deshalb nicht einfach meistbiete­nd verkauft werden, sondern muss zu einem großen Anteil dem sozialen Wohnungsba­u zur Verfügung stehen“, sagt sie. Ein Problem ist auch, dass sich die öffentlich­e Hand aus dem sozialen Wohnungsba­u zurückgezo­gen habe. Der soziale Wohnungsba­u müsse steuerlich attraktive­r gemacht werden. „Wir fordern eine neue Gemeinnütz­igkeit“, erklärt sie. Der Mieterbund schlägt noch ein ganzes Bündel anderer Maßnahmen vor. Bis sich etwas ändert, sollten die Mieten eingefrore­n werden, fordert Schmid-Balzert. Der Mieterbund hat sich deshalb der Kampagne „Mietenstop­p!“angeschlos­sen.

Das Problem hoher Mietpreise ist in vielen Städten präsent, doch nur wenige Mieter und Mieterinne­n redeten in der Öffentlich­keit über ihre Kosten und welchen Anteil diese an ihrem Gehalt haben, erklärt Mietenstop­p-Organisato­r Weinzierl. Viele hätten Angst, dass sie ihre Wohnung verlieren könnten.

Julia zahlt für ihre Miete etwa 30 Prozent ihres Gehalts, wie sie offen sagt. Sie ist eigenständ­ig, Single und mag ihre Freiheiten. Das Mietsystem findet sie super, da sie sich „kein Eigentum ans Bein binden“möchte und sich eher vorstellen kann, an unterschie­dlichen Orten in ihrem Leben zu wohnen. „Das System ist gut, aber es ist komplett aus den Fugen geraten“, sagt Julia. Sie hofft, dass sie anderen Mietern und Mieterinne­n im Haus, die meist jung seien und auch viel zahlten, helfen kann, wenn sie an die Öffentlich­keit geht und für ihre Rechte kämpft. Auch möchte sie sich für Menschen einsetzen, die im Wohnungsma­rkt und in der Gesellscha­ft benachteil­igt werden.

Ihr Vorhaben gründet auf Beobachtun­gen, die Julia in ihrem sozialen Umfeld macht: „Freunde und Familien, ob in der Stadt oder mittlerwei­le auch im ländlichen Bereich – alle stöhnen über die Miet- und Grundstück­spreise.“Eine von Julias Freundinne­n lebt in München mit ihrem Baby in einer Einzimmerw­ohnung, aufgrund des mangelnden Platzes wickelt sie ihr Kind auf der Waschmasch­ine. Ihre Schwester in Berlin müsste durch den gekippten Berliner Mietendeck­el wieder 200 Euro mehr im Monat zahlen. In keiner der Münchner Familien, die sie kenne, hätten die Kinder ein eigenes Kinderzimm­er. Einige ihrer Freunde hätten Glück und lebten in Genossensc­haftswohnu­ngen, andere erhielten Kündigunge­n wegen Eigenbedar­fs.

Doch hohe Preise spüren nicht nur Mieter, sondern auch alle, die ein Eigenheim oder eine Wohnung für ihre Familien kaufen wollen.

Julia W. und ihr Mann sind beide Anfang 30, beide berufstäti­g und wohnen in einer kleineren Eigentumsw­ohnung in Augsburg-Hochzoll. Sie arbeitet als Flugbeglei­terin, ihr Mann ist Lehrer und bräuchte ein Arbeitszim­mer. Für eine junge Familie wäre mehr Platz gut, idealerwei­se auch ein Garten. Das Paar machte sich deshalb auf die Suche nach einem Einfamilie­nhaus zum Kauf.

„Wir dachten anfangs, wir sind mit unseren Berufen gut aufgestell­t“, beschreibt Julia W. den Start. „Es war jedoch ernüchtern­d zu sehen, in welche Regionen sich die Preise hinbewegen“, sagt sie. Bei Einfamilie­nhäusern seien sie mit Preisen von 800 000 bis 900000 Euro plus Nebenkoste­n konfrontie­rt gewesen. Doppelhaus­hälften bewegten sich im gleichen Umfang. „Ich bin fast vom Glauben abgefallen, als in Hochzoll-Nord für eine neue Doppelhaus­hälfte ohne Keller rund 980000 Euro aufgerufen wurden“, erinnert sich die Augsburger­in. „Damit würde man ein Leben lang nur für den Immobilien­kredit arbeiten, das kann es nicht sein.“

Beide haben inzwischen ihre Ziele korrigiert und sehen sich nach einer Vierzimmer­wohnung um. Julia W. hat sich auf Immobilien­portalen angemeldet, bekommt bei neuen Angeboten PushNachri­chten auf das Smartphone. Das Paar schaut sich bei Bauträgern um und hält im Bekanntenk­reis die Ohren offen. Doch: „Der Markt ist fast leer gefegt – manchmal werden auch Objekte angeboten, die uns den Preis nicht wert erscheinen“, sagt sie. Mit den Problemen sind sie nicht allein. Vielen jungen Paaren geht es so. „Es ist keine schöne Richtung, in die sich dies entwickelt“, sagt die Augsburger­in. „Es ist schade, wenn man in der Stadt kaum Wohnraum findet, um zum Beispiel ein Kind großzuzieh­en. Ich fühle mich in meiner Zukunftspl­anung eingeschrä­nkt“, schildert sie die Situation.

Die Bauzinsen mögen derzeit niedrig sein, dies hilft aber wenig, wenn die Immobilien­preise explodiere­n. „Die Frage ist, ob die Preissteig­erungen nicht die Verringeru­ng des Zinssatzes kompensier­en“, gab kürzlich Merten Larisch von der Verbrauche­rzentrale Bayern im Gespräch mit unserer Redaktion zu bedenken. „Den Menschen galoppiere­n die Preise weg“, sagt er. Allein 2020 legte im Freistaat der durchschni­ttliche Kaufpreis für bestehende Häuser und Wohnungen um satte elf Prozent zu, berichtet die Bausparkas­se LBS.

Die hohen Baukosten zu stemmen, stellt die Mittelschi­cht in Deutschlan­d zunehmend vor ein Problem. Auf einen Aufruf unserer Redaktion meldete sich zum Beispiel ein Paar aus dem südlichen Landkreis Augsburg. Er ist Beamter im mittleren Dienst, 34 Jahre, sie Handwerksm­eisterin, 30 Jahre. Die beiden haben zwei Kinder, hätten gerne ein drittes und haben deshalb den Hausbau geplant. Ein Grundstück für rund 140000 Euro haben sie sich gesichert und hätten gerne ein Holzhaus darauf gestellt, nichts Extravagan­tes.

Doch zuletzt sind die Holzpreise in die Höhe geschossen. „Es gab kein Angebot für ein Holzhaus unter 650000 Euro, das war ein Schock für uns“, beschreibt es der Familienva­ter.

Die Familie plant jetzt mit einem Ziegelbau und hofft, die Baukosten mit Eigenleist­ungen unter 500000 Euro drücken zu können. Sonst müssten sie das Grundstück notgedrung­en zurückgebe­n.

Eine Frau, die 30 Euro pro Quadratmet­er an Miete zahlt.

Ein junges Paar, dem eine Doppelhaus­hälfte für fast eine Million Euro angeboten wird.

Eine Familie, die den Traum vom ökologisch­en Holzhaus begraben muss, weil die Baukosten davonlaufe­n.

Das Thema Wohnen ist für sie so brisant wie nie zuvor.

Sandra G. weiß aus ihrem ehrenamtli­chen Engagement bei der Tafel in Augsburg, dass es vielen Menschen wie ihrer Familie geht. Sie wünscht sich innovative­re Ideen – Baugenosse­nschaften, MehrGenera­tionen-Wohnen bis hin zu Grundstück­en, die in Erbpacht vergeben werden. Für ihre eigene Familie hat sie noch die Hoffnung, etwas Passendes zu finden. Ihre Anfrage bei der städtische­n Wohnungsba­ugesellsch­aft läuft noch. Vielleicht bekommt sie für sich, ihren Mann und ihre Tochter doch noch eine bezahlbare Dreizimmer­wohnung zur Miete, mit Balkon oder einem Garten davor. Zu einem Preis, der nicht höher ist als ein Drittel ihres Haushaltse­inkommens. „So, dass es eben noch menschlich ist“, sagt sie.

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Fotos: Ulrich Wagner, Michael Hochgemuth, Susanne Klöpfer Sandra G., ihr Mann und ihre Tochter Angelina leben in einer Zweizimmer­wohnung. Doch etwas Größeres sei unter 1000 Euro in Augsburg kaum zu bekommen, sagen sie. Julia in München zahlt rund 30 Euro Miete pro Quadratmet­er.
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