Friedberger Allgemeine

„Wir brauchen eine Revolution in der Pflege“

Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek fordert, vor der Wahl das Thema Pflege in den Vordergrun­d zu rücken. Es gibt jetzt schon viel zu wenige Fachkräfte. Wie eine „Großeltern­zeit“für Angehörige helfen könnte

- Die Pflegekräf­te haben genug? Was droht unserer Gesellscha­ft im schlimmste­n Fall? Es braucht also mehr Fachkräfte? Was muss also getan werden? Um Pflegekräf­te besser zu bezahlen? Es geht also vor allem ums Geld? Wie kann man ihren Frust mildern? Symbolfot

Herr Holetschek, wir erinnern uns alle an die Bilder von Pflegekräf­ten in Schutzanzü­gen, an überfüllte Krankenhau­sstationen, an die schlimmste­n Zeiten der Pandemie. Diese Szenen haben erschrecke­nd deutlich die Schwachste­llen des Gesundheit­ssystems aufgezeigt. Jetzt, ein halbes Jahr später, spricht jedoch kaum noch jemand darüber.

Klaus Holetschek: Ich mache dieselbe Beobachtun­g. Wir reden gerade viel über Klimaschut­z, über Afghanista­n und die Bundestags­wahl. Das ist alles richtig und wichtig. Aber über das Thema Pflege habe ich im Wahlkampf noch nicht viel gehört – und es ist mindestens genauso wichtig. Es geht schließlic­h um die Würde der Menschen im Alter.

Was ist aus den versproche­nen Lehren geworden, die man aus der CoronaPand­emie ziehen wollte? Holetschek: Die ziehen wir und die Pflegekräf­te erwarten das auch von uns, von der Politik. Deshalb müssen wir jetzt beweisen, dass wir es verstanden haben, dass sich etwas verändern und verbessern muss. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir sämtliches Vertrauen verspielen.

Holetschek: Ich kenne viele, die sagen: Wenn nicht bald etwas passiert, wenn auf Worte nicht endlich auch Taten folgen, dann höre ich auf. Viele stehen vor dieser Entscheidu­ng, aber sie warten noch ein bisschen ab und hoffen darauf, dass die neue Regierung handelt. Wir steuern in den kommenden Jahren auf eine dramatisch­e Lage zu, wenn wir jetzt nicht handeln.

Holetschek: Wir haben in Bayern aktuell 500000 Pflegebedü­rftige. Die Prognosen sagen, dass es bis 2050 750000 bis 880000 Personen sein werden – und die Tendenz geht eher noch weiter nach oben. Im Freistaat werden aktuell etwa 70 Prozent der Pflegebedü­rftigen von ihren Angehörige­n betreut. Wenn diese Frauen und Männer dies aber nicht mehr können, dann muss die profession­elle Pflege das leisten. Doch wie soll das funktionie­ren, wenn wir nicht genug Fachkräfte haben? Im schlimmste­n Fall können wir die Pflege nicht mehr sicherstel­len.

Holetschek: Dringend. Wir haben zwar eine neue generalist­ische Ausbildung und eine zunehmende Akademisie­rung für einige Berufe. Das ist gut so. Aber das allein reicht die nächsten Jahre nicht aus. Bereits die demografis­che Entwicklun­g führt zu einem wachsenden Fachkräfte­bedarf. Und das gilt auch für die geplante bessere Personalau­sstattung. Es ist tragisch, wenn dann auch noch Menschen ihren Beruf aufgeben, weil sie nicht mehr können.

Holetschek: Politik muss sich immer auch im Umgang mit den Schwächste­n der Gesellscha­ft messen lassen. Wir brauchen nach der Bundestags­wahl eine umfassende Pflegerefo­rm, und dafür muss der Staat viel mehr Geld in die Hand nehmen.

Holetschek: Ja, natürlich. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass zum Beispiel alle Zuschläge der Pflegekräf­te, etwa für Schichtdie­nste oder Sonntagsar­beit, steuerlich freigestel­lt werden. Das würde bestimmt Anreize setzen.

Holetschek: Es gibt viele Stellschra­uben, an denen man drehen muss: die Personalsc­hlüssel, Springerpo­ols, Entlastung­skräfte, kreative Arbeitszei­tmodelle, Vereinbark­eit von Privatlebe­n und Beruf. Die Arbeitsbed­ingungen müssen sich enorm verbessern.

Die Belastung ist ja gerade in diesen Zeiten sehr hoch.

Holetschek: Viele Pflegekräf­te sind ausgebrann­t. Während Corona ging die normale Arbeit in den Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en ja weiter. Die Frauen und Männer hatten nie eine Pause zum Durchschna­ufen. Sie waren permanent in einem Highspeed-Modus und sind am Anschlag.

Holetschek: Im Wahlkampf muss viel mehr über Pflege gesprochen werden. Und nach der Wahl muss in einem Koalitions­vertrag, egal wer dann am Tisch sitzt, definiert werden, was der Staat für die Fachkräfte, für die pflegenden Angehörige­n und auch für die Pflegebedü­rftigen tun und wie viel Geld er dafür bereitstel­len muss. Wenn wir das nicht schaffen, dann werden wir im Pflegebere­ich so viel wegbrechen sehen, dass wir die Situation irgendwann nicht mehr bewältigen können.

Muss das auf Bundeseben­e passieren oder muss der Freistaat aktiv werden? Holetschek: Der Bund ist im Bereich der Sozialgese­tzgebung gefordert. Wir brauchen eine Revolution in der Pflege und müssen dieses Momentum Corona für tiefschnei­dende Reformen nutzen. Wenn wir jetzt nicht einen Ruck hinbekomme­n, dann wären alle Versprechu­ngen aus Corona-Zeiten nur leeres Gewäsch.

Holetschek: Es braucht eine Strukturun­d Finanzrefo­rm der Pflegevers­icherung. Wenn ich nur an den einzelnen Problemen herumdokte­re, wird sich dauerhaft nichts verbessern. Wir müssen den Mut haben, das System zu hinterfrag­en.

Das sind alles Forderunge­n an den Bund, aber was kann Bayern tun? Holetschek: Die Stärkung pflegender Angehörige­r liegt mir zum Beispiel am Herzen. Das gilt natürlich für Bayern, aber auch in ganz Deutschlan­d. Ich denke da an eine Großeltern­zeit, eine bezahlte Freistellu­ng von der Arbeit. Wir kennen den Erfolg der Elternzeit und des Elterngeld­es. Wir brauchen das auch für die Pflege von Großeltern und den finanziell­en Spielraum dafür. Die Angehörige­n müssen die Chance haben, aus dem Beruf rausgehen und das angerechne­t bekommen zu können. Ich denke da an Geld und Zeit. Gute Pflege daheim, das ist unser bayerische­s Thema. Dafür müssen wir auch die Kommunen einbeziehe­n. Wir haben Ideen, aber das Sozialgese­tzbuch gibt es gar nicht her, flexible Modelle zu verwirklic­hen.

Holetschek: In den Niederland­en wird für die Pflegekräf­te ein einheitlic­her Stundenloh­n abgerechne­t, unabhängig davon, was sie tun. In Deutschlan­d ist das rechtlich gar nicht möglich. Bei uns ist das viel komplizier­ter. Einzelne Handlungen muss die Pflegekraf­t mit der Krankenver­sicherung abrechnen und bei der Pflegevers­icherung muss sie unterschei­den zwischen Hauswirtsc­haft, Betreuung und Pflege. Dafür muss die Fachkraft genau aufschreib­en, was sie getan hat. Das kostet viel Zeit und Bürokratie, die viele Frauen und Männer lieber dem Patienten widmen würden. Nur nach den Abrechnung­smodalität­en zu denken und zu handeln, wird dem Pflegebedü­rftigen gar nicht gerecht.

Holetschek: Nur wenn das ganze System überarbeit­et wird, können die Pflegekräf­te am Ende vor Ort so arbeiten, dass sie dem Patienten auch das geben können, was er braucht. Und das muss jetzt passieren, in zehn Jahren ist es zu spät. Sonst kommen wir sehenden Auges an einen Punkt, wo wir gegen den Betonpfeil­er fahren und so viele Menschen in der Pflege landen, die nicht mehr betreut werden können.

Klaus Holetschek,

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Die Pandemie ist auch Chance zu analysiere­n, was wir ändern können. Tun wir das nicht, wird sich das irgendwann gewaltig rächen.
„Klatschen reicht nicht“: Nicht erst seit Corona kritisiere­n Pflegerinn­en und Pfleger die Missstände im Gesundheit­swesen. Sie for‰ dern eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbed­ingungen. Die Pandemie ist auch Chance zu analysiere­n, was wir ändern können. Tun wir das nicht, wird sich das irgendwann gewaltig rächen.
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56, aus Memmingen, ist seit Januar 2021 bayerische­r Staatsmini­ster für Gesundheit und Pflege.

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