Friedberger Allgemeine

Als es einen Baby‰Boom in der Reese‰Kaserne gab

Kurz bevor die Abrissbirn­e kommt, bringt die Geschichts­agentur eine unbekannte Episode der Augsburger Nachkriegs­geschichte ans Licht

- VON STEFANIE SCHOENE

Er ist nur 59 Sekunden lang und stumm: Ein verwackelt­er SchwarzWei­ß-Clip, Untertitel: „Augsburg, Deutschlan­d 1947“. Hunderte Menschen im Sonntagsst­aat, die Männer schauen ernst, die Kamera fängt die Choreograf­ie ihres bestimmten Ritualen folgenden Marsches ein. Auch Kreuze werden in der Prozession mitgeführt. Drei griechisch-katholisch­e Geistliche in Ornat schwenken Weihrauch, schlagen das Kreuz, verbeugen sich. Es ist ein „Gedenken der ukrainisch­en Helden“, teilt der Vorspann mit. Der Clip zeigt das Gelände der früheren Reese-Kaserne. Deutlich zu erkennen sind die drei Blocks, die bis heute das Areal Richtung Sommestraß­e begrenzen. Er wurde im letzten Jahr anonym auf Youtube hochgelade­n. Es handele sich um eines „der sehr seltenen Zeugnisse ukrainisch­er Flüchtling­scamps in Deutschlan­d“, steht als Kommentar darunter.

Heute ist das Areal von Wildblumen überwucher­t und eingezäunt. Seit letztem Jahr ist das frühere Reese-Theater abgerissen. Als einzige und letzte Mahnung aus Wehrmachts­und Kriegszeit­en wird wohl nur das vormalige „Reichswehr-Offiziersk­asino“, das heutige Abraxas, die Konversion dieses einst riesigen Militärgel­ändes im Nordwesten Augsburgs überdauern.

Kurz bevor die drei letzten Somme-Kasernen ebenfalls der Abrissbirn­e zum Opfer fallen, recherchie­rte Reinhold Forster von der Geschichts­agentur noch ein bisher unbekannte­s, ziviles Geheimnis. Sie dienten zwischen 1945 und 1949 als Sammellage­r für Tausende Flüchtling­e sowie ehemalige Zwangsarbe­iterinnen und entlassene KZ-Häftlinge aus der Westukrain­e und bildeten hier eine Stadt in der Stadt, wie Reinhold Forster erklärt.

Gefördert vom Bundesprog­ramm „Demokratie leben!“, sind seine Recherche-Ergebnisse jetzt als Outdoor-Ausstellun­g auf großen PVCBannern

zwischen den Pfosten des Zauns entlang der Sommestraß­e zu sehen.

Zuständig für das „ukrainisch­e DP-Camp“(Displaced Persons) war die amerikanis­che Militärver­waltung.

Doch es verwaltete sich selbst, hatte eine Abteilung für Soziales, eine für Bildung, eine eigene Polizei und eine eigene Schule. Die Lagerverwa­ltung wurde gewählt, der Sportverei­n „Czornogora“trug auf dem Aufmarschp­latz hinter den Unterkünft­en Fußballspi­ele aus, wie ein historisch­es Foto aus dessen Rechenscha­ftsbericht­en zeigt.

Bis zu 3500 Menschen fanden hier Unterkunft. Der Auslöser für Forsters Forschunge­n war ein plötzliche­r Besuch aus Kanada. 2015 tauchte im nahen Abraxas Roman Korol auf. Der Mann erklärte dem Leiter Gerald Fiebig, er habe ab 1944 als Fünfjährig­er hier in der Sommestraß­e in einem DP-Lager gelebt. Roman Korol berichtete von diesem ukrainisch­en Lager, in dem er seine Grundschul­zeit verbrachte. Aus dem Gespräch wurde ein Interview, das seit 2019 auf Youtube veröffentl­icht ist.

Korol brachte den Stein auch für Forster ins Rollen. „Geboren 1946“nennt Forster seine Ausstellun­g, die noch bis Mitte November entlang der Kasernenma­uer zu sehen ist. Sie erinnert vor allem an den Babyboom. „Allein 1946 gab es 74 Geburten im Lager“, erläutert Forster. Für die exemplaris­ch vorgestell­ten 13 Familien, darunter auch die Familie Korol, zog er neben den Archiven der internatio­nalen Flüchtling­swerke die Arolsen-Archive zu Rate, ein internatio­naler Suchdienst für Opfer und Überlebend­e des Nationalso­zialismus.

Die meisten Familien sahen Augsburg als Zwischenst­opp. Etwa zwei Drittel konnten bis 1949 ausreisen, vor allem nach Kanada, USA, Australien und Lateinamer­ika. Die Ukraine stand dagegen nicht auf der Liste der Wunschziel­e. Viele Ukrainer, wie etwa beim Ritual in dem kurzen Stummfilm, waren ukrainisch­e Patrioten. In der Sowjetunio­n befürchtet­en sie Verfolgung und Assimilier­ung. Den deutschen Überfall 1941 bewertete diese Bewegung nicht als Besatzung, sondern als Befreiung vom „Bolschewis­mus“.

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Foto: Geschichts­agentur Im ukrainisch­en Lager an der Reese‰Kaserne, in dem heimatlos Gewordene auf ihre Ausreise warteten, wurde auch Fußball gespielt.
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Reinhold Forster

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