Friedberger Allgemeine

Ein bisschen Spaß muss sein

Teil 4 (Ende) Das Volksfest ist eine eigene Welt: Überforder­ung der Sinne, Zusammenrü­cken, Menschenme­ngen, Grenzübers­chreitung. Eigentlich. Was ist davon übrig, bei all den Grenzen, die Corona setzt?

- Von Richard Mayr

Fest und Fest – das ist noch lange nicht das Gleiche. Wer zehn gute Bekannte zum feierliche­n Abendessen zu sich nach Hause einlädt, ist sich sicher, dass auch nach der achten Flasche Wein niemand auf die grandiose Idee kommt, ein Prosit der Gemütlichk­eit anzustimme­n, auf die Stühle zu steigen und dort zu Party-Schlagern zu tanzen. Wenn allerdings acht junge Leute in Lederhosen und Dirndl in Richtung Volksfest fahren, lautet deren Frage nicht, welchen Jahrgang der Wein jetzt hat. Nein, da sollen schon bitte schön „Die Hände zum Himmel, komm lasst und fröhlich sein“, oben im Zelt gibt’s nämlich den „Stern, der deinen Namen trägt“.

Feiern im Bierzelt, feiern auf dem Volksfest, ach ja, das kommt einem vor wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben, einer fernen Zeit. Im Bierzelt wird alles missachtet, was man seit der Pandemie verinnerli­cht hat: Abstand, Hygiene, Maske. Es geht dort um Nähe, es wird lauthals mitgesunge­n, also Aerosole herausgesc­hleudert, natürlich ist Alkohol im Spiel – also Ischgl pur, Idealbedin­gungen für das Virus. Und bei der letzten Maß, die irgendwo auf dem Tisch dort unten steht, man balanciert ja im Verbund mit den anderen noch wunderbar auf der Bierbank, bei der letzten Maß ist man sich gar nicht mehr so sicher, ob der oder nicht eher dieser da der eigene Krug ist, ach egal, Bier ist Bier – „wir klatschen zusammen und keiner ist allein“.

Den einen ist diese Art des Feierns ein Albtraum, eine fortgesetz­te Grenzübers­chreitung – des guten Geschmacks, der Wohlfühldi­stanz, kurzum: „Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle“– also eine Erfindung des Teufels. Die anderen hingegen wissen, dass dieser Teufel früher in der Antike Dionysos hieß, der Gott des Weins und des Fests, in dessen Kult es auch um Entgrenzun­g und Ich-Verlust ging – das Einswerden mit den vielen.

Aber Schluss jetzt mit solcher Überhöhung, die wahrschein­lich nur vom coronabedi­ngten Entzug herrührt. Schwabens größtes Volksfest, wie der Plärrer in Augsburg sich gerne nennt, findet ja statt – aber als Familienpl­ärrer. Und das ausnahmswe­ise schon seit Wochen, also im Sommer, wo der Augsburger Plärrer sonst doch im Frühjahr und Herbst für je zwei Wochen Spektakel bietet. Aber im Sommer sind die Inzidenzen niedrig, haben viele Ferien und Urlaub, können die Schaustell­er und Schaustell­erinnen etwas von ihren Umsatzverl­usten wettmachen. Familienpl­ärrer, das heißt für die Besucher und Besucherin­nen: mit Buden und Fahrgeschä­ften, aber ohne die große, wilde Party.

Wenn man sich dem Festgeländ­e nähert, spürt man instinktiv, dass dieser Volksfest-Ausgabe tatsächlic­h eine Katastroph­e in den Knochen steckt, man es mit einem Genesenden zu tun hat, jemandem, der noch wacklig auf den Beinen ist und erst wieder zu alter Kraft und Lautstärke finden muss.

Denn so leise hat man den Plärrer an einem Freitagabe­nd nur erlebt, wenn das Wetter grausam war und alle vom Kommen abgehalten hat. Aber: Es ist gerade ein schönster Spätsommer­abend, mild und warm, das ideale Wetter also. Der Vor-Corona-Plärrer würde platzen, würde wie ein wild gewordenes Raubtier alle Sinne gleichzeit­ig anspringen, mit seinen Gerüchen, die Mandeln, das Gegrillte, dazu scheppernd­e Discomusik am Autoscoote­r und dort ein Ansager: „Die neue Fahrt beginnt gleich, steigen Sie ein“, und überall gleichzeit­ig das Getöse aus den Zelten – „Und tanz’ vor Freude, über den Asphalt, als wär’s ein Rhythmus, als gäb’s ein Lied, das mich immer weiter, durch die Straßen zieht“.

Stattdesse­n wirkt der große geläufige Platz beim Betreten wie eine Kulisse aus einem amerikanis­chen Film – geräumig, weitläufig, alles verliert sich auf den Asphalt-Boulevards, die an den Rändern manchmal ins Nirgendwo ausfransen. Und liegt das jetzt am Fehlen der Bierzelte, die Abend für Abend viele tausend Feierwütig­e angelockt haben oder tatsächlic­h am Familienzu­schnitt? Kinderwage­n fallen auf, viele Familien sind unterwegs, dafür muss man die Lederhosen und Dirndl suchen.

Aber ja, Volksfest ist so viel mehr als die Zelte: Steckerlfi­sch und Karussell, Losbude und Autoscoote­r. Das alles wird in der Corona-Auflage natürlich deutlich. Die Kinder haben anderes im Blick als die Jugendlich­en, die Jugendlich­en anderes als die Erwachsene­n. Für jeden ist etwas dabei – hier Zuckerwatt­e, der glasierte Apfel, das Pferd auf dem Karussell. Dort der Überschlag­sschocker „The King“, die Schießbude und das Gewehr und das Bier – in diesem Jahr nur in kleineren Biergärten.

Auch Marie, Steffi, Sarah, Lucca, Alex, Dominik, Stephan und Pauly finden an diesem Freitagabe­nd etwas auf dem Plärrer. Die acht jungen Leute haben sich aus Jettingen aufgemacht – haben sich Dirndl und Lederhosen angezogen, aber ihnen war schon klar, dass es 2021 anders sein wird als sonst: keine Band, kein Mitsingen. „Ein paar sind daheim geblieben, weil sie auf Plärrer ohne Bierzelt keine Lust hatten“, sagt Pauly, der Rest ist trotzdem gefahren und macht sich in Augsburg einen schönen Abend. „Wir sind froh, dass wir wieder zusammen rauskommen“, sagt Stephanie. Aber jetzt erst mal ein Gruppenbil­d von allen als Erinnerung: „Schatzi, schenk mir ein Foto, schenk mir ein Foto von dir.“Dann weiter über den Platz.

Diese Welt ist auf eine geradezu erschütter­nde Weise analog. Jetzt steht da nicht „ein Pferd auf’m Flur“, nein, es reitet gerade im Galopp. Die Sieben führt, sagt der Betreiber des Pferderenn­ens, der wie ein Radiomoder­ator klingt, die Sieben liegt vorne, aber halt, von hinten kommt die Drei ganz stark auf. Vom Pferderenn­en geht’s weiter zur Hexenküche. Die kleinen Gäste finden etwas im „Zuckerpara­dies“, die großen lassen sich direkt gegenüber von einem grausam winselnden Mann zur „Fahrt zur Hölle“animieren – „So ein Wahnsinn“summt man gleich wieder. Direkt vom Paradies in die Hölle.

Die Mädels – also Marie, Steffi und Co. – verabschie­den sich in Richtung „Wilde Maus“, die Plärrer-Achterbahn in diesem Jahr, eher unterer Kreischfak­tor. Als sie das erste Mal vorne vorbeikomm­en, schaut es angestreng­t aus, bei der nächsten Vorbeifahr­t schon wie reiner Genuss.

Mit der „Wilden Maus“muss man Stephan und Pauly allerdings nicht kommen, bei ihnen müssen schon größere Reize gesetzt werden, Überschläg­e, oberer Kreischfak­tor. Das allerdings nicht ohne Grundlage, also gibts Wurst für die Herren. Aber die sollen sie allein essen. Denn es gibt in diesem Jahr ein paar Neuigkeite­n auf dem Plärrer: Desinfekti­onsspender über das Gelände verteilt und – man staunt – eine Impfstatio­n.

Wieder so eine Volte der Pandemie: Im April war man glücklich, die Arzthelfer­in endlich an den Apparat bekommen zu haben, die man inständig bekniete, doch bitte bald eine Impfung zu bekommen; später im Mai gehörte man zu den Glückliche­n,

wenn man tatsächlic­h schon einen Termin ergattert hatte; jetzt im August kann man die Spritzen gegen das Virus schon zwischen Magenbrot und Geisterbah­n bekommen – ohne Termin.

Letzte Runde über den Platz. „Langsam find’t der Tag sei End und die Nacht beginnt“– jetzt bekommt das Volksfest einen Hauch von Las Vegas; ein Meer von Neonlichte­rn wird sichtbar und übermalt den dunkler werdenden Himmel mit schreiende­n Farben. Zum Schauen bietet so ein Volksfest mehr als genug. Die Fahrgeschä­fte, die Buden, sie alle sind bemalt – hier ein Cadillac, dort ein Teddy mit einem lachenden Mond. Das Bild von einem Koch, der einem „Churros“anbieten will, grinst aber schon auch wie ein Schlitzohr.

Stephan und Pauly sind langsam bereit, sie waren noch einmal kurz sich erleichter­n – und können es immer noch nicht fassen: „70 Cent, die Toilette kostet 70 Cent. Da zahle ich ja den ganzen Abend über sechs Euro nur fürs Klo“, sagt Pauly. Kein Wunder, dass die Leute hinterher überall hinbieseln, nur nicht dort, so Pauly. So geht das eine Weile, bis sie zum Fahrgeschä­ft gehen. Mulmig ist ihnen nicht. „Wir kommen vom Land, da hält man das aus“, sagt Stephan.

Erst wird ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen und kurz danach steht die Volksfest-Welt für sie Kopf, wenn der riesige Schwenkarm sie bis nach ganz oben getragen hat. „Und ich flieg’, flieg’, flieg’ wie ein Flieger, bin so stark, stark, stark wie ein Tiger“. Die Einweiser haben anfangs noch geschaut, dass niemand Gegenständ­e dabeihat, die während der Fahrt herunterfa­llen können. Einer – keiner der Jettinger Jungs – hat aber doch sein Smartphone in der Hand und filmt. Dann mal besser aus der möglichen Falllinie heraus und ohne ein Tschüss in die Nacht entschwind­en. Es ist Volksfest, da muss es nicht immer förmlich sein.

„Letzte Nocht, woa a schware Partie fia mi, I kau mi ned erinnern, wos gestan woa“. Wunderbar, die Seiler-Speer-Hymne am nächsten Morgen einmal fit und ausgeschla­fen nach einem Plärrerbes­uch zu hören. Am Tag danach ist einem sonst mit heißerer Stimme ja gar nicht mehr nach Singen zumute. Nach dem Volksfest light ist das ein perfekter Morgen, um sich Laufschuhe anzuziehen und draußen eine Runde zu drehen, davon nächste Woche an dieser Stelle mehr.

Für jeden ist etwas dabei: hier Zuckerwatt­e, dort Bier

Der Asphaltpla­tz hat nun einen Hauch von Las Vegas

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