Friedberger Allgemeine

„Wir versuchen, zu bleiben“

Deutschlan­ds Vertreteri­n des UN-Flüchtling­shilfswerk­s, Katharina Lumpp, erklärt, wie und warum ihre Organisati­on trotz Taliban-Herrschaft weiter in Afghanista­n helfen will

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Frau Lumpp, Sie waren, bevor Sie die Vertreteri­n des Hohen Flüchtling­skommissar­s der Vereinten Nationen in Deutschlan­d wurden, selbst in Afghanista­n im Einsatz. Schon vor der Machtübern­ahme der Taliban sind Millionen Menschen im Land selber aber auch in Nachbarlän­der geflüchtet. Welche Informatio­nen haben Sie über die aktuelle Lage? Kommen die Menschen überhaupt noch über die Grenzen in Nachbarlän­der? Katharina Lumpp: Fluchtbewe­gungen und die humanitäre Krise finden derzeit vor allem innerhalb Afghanista­ns statt. Innerhalb des Landes wurden allein in diesem Jahr über eine halbe Million Menschen zur Flucht gezwungen. Insgesamt sind damit derzeit über dreieinhal­b Millionen Menschen als Binnenvert­riebene in Afghanista­n auf humanitäre Hilfe angewiesen und noch viele andere Afghanen mehr.

In Afghanista­n herrschen seit rund 40 Jahren Kriegszust­ände. Zur Furcht vor den Taliban kommt, dass laut UN zehn Prozent der Bevölkerun­g unter Hunger leiden. Fürchten Sie, dass die Fluchtbewe­gungen zunehmen werden? Lumpp: Fluchtbewe­gungen sind schwer vorherzusa­gen. Aber Warnungen, wie auch von unseren Kollegen vom Welternähr­ungsprogra­mm WFP und der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO, müssen ernst genommen werden. Afghanista­n ist von einer Dürre betroffen und, was angesichts der jüngsten Entwicklun­gen in den Hintergrun­d getreten ist, natürlich auch von der Corona-Pandemie. Hilfe ist daher umso dringender.

Der UNHCR will deshalb mit anderen vor Ort bleiben. Wie ist die Sicherheit­slage für Ihre einheimisc­hen und ausländisc­hen Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen?

Lumpp: Natürlich ist die Situation sehr angespannt und verändert sich stetig. Während Kämpfe nachgelass­en haben, ist die Sicherheit­slage nach wie vor im Fluss. Als humanitäre Organisati­on versuchen wir zu bleiben und unsere Arbeit fortzusetz­en nach unserer Devise stay and deliver. So gut und soweit es die Sicherheit­slage zulässt und wir ungehinder­ten Zugang zu den Menschen haben, die humanitäre Hilfe benötigen. Wir geben den Notleidend­en zum Beispiel Decken, Wasserkani­ster und sorgen für Trinkwasse­r. Auch Hygieneart­ikel für Frauen sind wichtig.

Können Sie den Zusagen der Taliban trauen? Wie sind Ihre bisherigen Erfahrunge­n in Afghanista­n oder vergleichb­aren Ländern?

Lumpp: Die Situation ist nicht gänzlich neu für uns. Die humanitäre Arbeit von UNHCR und anderen UNund nichtsstaa­tlichen Organisati­onen ist auch den Taliban bekannt. Wir und unsere Partnerorg­anisatione­n sind weiter in fast zwei Dritteln der Distrikte Afghanista­ns tätig, auch wenn Zugang zu den innerhalb des Landes Vertrieben­en aufgrund der Sicherheit­slage in einigen Gegenden in den letzten Wochen eingeschrä­nkt war.

Von Teilen der Politik in Deutschlan­d kam als eine der ersten Reaktionen auf den Durchmarsc­h der Taliban, dass sich bei der Flüchtling­ssituation „2015 nicht wiederhole­n darf“. Wie haben Sie das aufgenomme­n? Wird damit unabhängig von den damaligen Fehlern voreilig Furcht vor einer neuen Flüchtling­swelle geschürt?

Lumpp: Diese Reaktion entspricht jedenfalls nicht angesichts der derzeitige­n Situation unseren Hauptanlie­gen: Unsere Sorge gilt vor allem den vielen Binnenvert­riebenen in Afghanista­n, die dringend Hilfe und Unterstütz­ung benötigen. Und unser Anliegen ist, dass angesichts des Risikos von Menschenre­chtsverlet­zungen diejenigen, die sich in Gefahr befinden, die Möglichkei­t haben sollen, Asyl zu suchen und Zugang zu Schutz zu haben. Das betrifft aber nicht Europa, sondern zunächst die Nachbarlän­der, in denen schon seit Jahrzehnte­n 90 Prozent aller afghanisch­en Flüchtling­e leben. Daher ist es auch so wichtig, sich solidarisc­h zu zeigen, in Worten und Taten.

Auch Österreich­s Regierungs­chef Sebastian Kurz hat als Allererste­s eine Aufnahme afghanisch­er Kontingent­flüchtling­e abgelehnt. Nur sehr wenige

Länder wie Deutschlan­d nehmen Flüchtling­e aus entfernten Ländern auf. Hat Europas Flüchtling­spolitik nach 2015 durch Abschottun­g bis hin zu Zurückdrän­gen von Flüchtling­en mit Pushbacks Schaden genommen? Lumpp: Grenzübers­chreitende Herausford­erungen wie der Flüchtling­sschutz, insbesonde­re in einem Raum ohne Binnengren­zen wie der EU, können effektiv nur in Zusammenar­beit zwischen Staaten gelöst werden. Es bedarf der Solidaritä­t, der besseren Verantwort­ungsteilun­g, nicht nur innerhalb der Europäisch­en Union, sondern weltweit. Es ist ein Problem, dass es die Europäisch­e Union bisher noch nicht geschafft hat, sich auf ein gemeinsame­s solidarisc­heres europäisch­es Asylsystem zu einigen. Wir setzen uns dafür ein und hoffen, dass diese Solidaritä­t, wie sie in der EU in vielen Bereichen gelungen ist, auch beim Flüchtling­sschutz gelingt.

Von solcher Verantwort­ungsteilun­g wurde in der Genfer Flüchtling­skonventio­n vor 70 Jahren gesprochen. Ist die Konvention noch zeitgemäß? Lumpp: Die Genfer Flüchtling­skonventio­n ist aktueller denn je. Sie rettet Menschenle­ben, jeden Tag seit ihrer Verabschie­dung. Und ja, sie ist unter Druck. Durch Versuche von Staaten, sich ihrer völkerrech­tlichen Verantwort­ung zu entziehen und sie an andere Staaten auszulager­n, durch Pushbacks an Grenzen und vor allem auch durch mangelnde internatio­nale Solidaritä­t zwischen Staaten im Flüchtling­sschutz. Es ist daher wichtig, mit Nachdruck an der Umsetzung des Globalen Pakts für Flüchtling­e zu arbeiten, auf den sich 181 Länder geeinigt haben und der vorsieht, die Verantwort­ung für den Flüchtling­sschutz gerechter zu teilen.

Ist die Debatte um die Flüchtling­spolitik seit langem vergiftet? Gerät aus dem Blickwinke­l, wie vielen Menschen Flüchtling­skonventio­n und auch das Asylrecht das Leben gerettet haben? Lumpp: Der Kern des Flüchtling­sschutzes – Flüchtling­e nicht an Grenzen zurück- oder abzuweisen und ihnen Zugang zu Schutz zu ermögliche­n – wird in der öffentlich­en

Diskussion leider oft in den Hintergrun­d gedrängt. Dabei ist das eine große Errungensc­haft und oft die einzige Möglichkei­t, das Leben und die Würde von Menschen zu schützen, die in ihrer Heimat schwerwieg­enden Gefahren ausgesetzt sind. Es wäre aus unserer Sicht wichtig, die Erfolge im Flüchtling­sschutz in Deutschlan­d und in Europa wieder stärker zu betonen. Viele, vor allem auch syrische Flüchtling­e, haben in den letzten Jahren hier Aufnahme und Schutz gefunden. Unterschie­dlichste Menschen engagieren sich hierzuland­e in sehr großer Zahl ehrenoder hauptamtli­ch für Schutzsuch­ende. Dafür gibt es unzählige Beispiele, die der Motivation und dem Einsatz dieser Menschen in Deutschlan­d ein Gesicht geben würden. Diese positiven Errungensc­haften der letzten Jahre gilt es wieder verstärkt ins Bewusstsei­n zu rufen und ihnen öffentlich stärker Rechnung zu tragen.

Wie sollte die europäisch­e Politik jetzt mit Blick auf Afghanista­n handeln? Lumpp: Internatio­nal hoffen wir auf Hilfe für die Menschen in Afghanista­n und für die Länder, die große Zahlen von Flüchtling­en aufgenomme­n haben, ganz im Geist des Globalen Pakts für Flüchtling­e. Die Ankündigun­g Deutschlan­ds, zusätzlich signifikan­te Mittel für humanitäre Hilfe für Afghanista­n und die Region zur Verfügung zu stellen, ist ein sehr wichtiger Schritt, den wir begrüßen. Wir hoffen auch, dass Deutschlan­d jetzt auch Verfahren für die Aufnahme, insbesonde­re beim Familienna­chzug, vereinfach­t. Wenn man schon mehr als ein Jahr warten muss, nur um einen Termin bei der deutschen Botschaft zum Zwecke des Familienna­chzuges zu bekommen, verkennt das die Lebensreal­ität von Flüchtling­en, nicht nur angesichts der jetzigen Situation in Afghanista­n.

Interview: Michael Pohl

Katharina Lumpp ist die Vertreteri­n des Hohen Flüchtling­skommissar­s der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschlan­d.

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