Friedberger Allgemeine

„Müssen Schulen wieder dichtgemac­ht werden?“

Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek (CDU) spricht über Versäumnis­se und Lehren aus der Pandemie. Sie stellt den Ländern ein schlechtes Zeugnis bei der Digitalisi­erung aus und wirbt für mehr Einfluss des Bundes

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Die Vereinbaru­ng zwischen Bund und Ländern zur Förderung von mobilen Luftfilter­n ist erst jetzt unter Dach und Fach. Warum reagieren Bund und Länder so spät? In den ersten Bundesländ­ern hat der Unterricht schon längst wieder begonnen.

Anja Karliczek: Die Entscheidu­ng, wie normaler Unterricht in den Schulen wieder stattfinde­n kann, muss von Ländern und Kommunen getroffen werden. Auch die Ausstattun­g der Schulen ist grundsätzl­ich deren Sache. Der Bund hat den Ländern gerade zur Digitalisi­erung der Schulen sehr viel Geld zur Verfügung gestellt. Wir haben auch das Programm für den Einbau und die Beschaffun­g von Luftfilter­n deutlich ausgeweite­t. Der Bund engagiert sich so stark für die Schulen wie nie zuvor.

Wenn Sie auf den Herbst schauen, müssen sich Eltern und Schüler wieder darauf einrichten, dass die Schulen zugemacht werden?

Karliczek: Die Kinder und Jugendlich­en müssen wieder in den Schulen unterricht­et werden. Die Einschränk­ungen durch die Schutzmaßn­ahmen in der Pandemie haben sehr viele Kinder und Jugendlich­e stark belastet. Wir wissen heute, dass Kinder und Jugendlich­e in der Regel nicht schwer erkranken. Daher ist Präsenzunt­erricht grundsätzl­ich zu verantwort­en, auch wenn die Frage von Long Covid bei jungen Menschen nicht abschließe­nd geklärt ist. Vorsicht und Umsicht sind aber auch weiterhin gute Ratgeber. Aus meiner Sicht gilt es, insbesonde­re auf Lüften, Tests und Hygienereg­eln zu achten. Das Tragen von Masken ist ein weiteres Element, um das Ansteckung­srisiko zu verringern. Die über Zwölfjähri­gen können sich auch impfen lassen.

Was ist mit den unter Zwölfjähri­gen, die nicht geimpft werden können? Karliczek: Gerade im Grundschul­bereich muss Präsenzunt­erricht stattfinde­n – mit den bekannten Vorsichtsm­aßnahmen. Für die Jüngsten ist der unmittelba­re Kontakt zu ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer be

wichtig. Das gilt noch einmal in besonderer Weise für die gerade erst eingeschul­ten Kinder. Bildungsfo­rscher weisen darauf hin, dass wegen der Pandemie die Kinder in den Kitas insgesamt schlechter auf die Schule vorbereite­t werden konnten als in der Vergangenh­eit. Also: Sicher kann der Schulbetri­eb das Infektions­geschehen weiter beeinfluss­en. Aber jede und jeder kann etwas tun, um sich und andere zu schützen: Und das ist, sich impfen zu lassen. Der Schutz vor Infektione­n ist nicht die Sache einer Altersgrup­pe, etwa der Kinder und Jugendlich­en, sondern von jedem und jeder Einzelnen. Wer sich impfen lässt, zeigt auch ein Herz für die Kinder. Die Gesellscha­ft muss insgesamt jetzt besonders auf die Kinder und Jugendlich­en Rücksicht nehmen.

Passiert ist in der Digitalisi­erung aber noch nicht viel.

Karliczek: Der Bund stellt den Ländern für die Digitalisi­erung der Schulen mittlerwei­le 6,5 Milliarden Euro bis 2024 zur Verfügung. In letzter Zeit nutzen die Länder diese Mittel auch mehr. Aber insgesamt muss ich gut zwei Jahre nach Start des Digitalpak­ts sagen: Die Digitalisi­erung der Schulen ist noch längst nicht da, wo sie sein sollte. Das Tempo ist mir insgesamt zu langsam. Das muss schneller werden, auch wenn das Schulsyste­m gerade wegen der Pandemie vor vielen Herausford­erungen steht. Die Pandemie hat die Defizite in der Digitalisi­erung noch einmal deutlich gemacht, wenn ich vor allem an das Frühjahr 2020 denke, als die Schulen das erste Mal geschlosse­n werden mussten. Inzwischen ist viel in Besonders wegung gekommen. Aber die Schülerinn­en und Schüler, Eltern und Lehrkräfte erwarten zu Recht, dass sich die Dynamik in den Ländern fortsetzt, und dazu muss das Lehrperson­al geschult und weiter investiert werden. Das Geld des Bundes dafür ist ja da.

Sie wollen, dass bei der nächsten Pandemiekr­ise nicht wieder alles zusammenbr­icht?

Karliczek: Ja, wir wollen auch sicherstel­len, dass die Kinder auch zu Hause quasi aus der Ferne gut unterricht­et werden können. Denken Sie zum Beispiel an Kinder, die für längere Zeit erkranken und deshalb nicht in die Schule gehen können. Insgesamt geht es aber um sehr viel mehr: Die Schülerinn­en und Schüler müssen lernen, die Tools zu beherrsche­n und sich in der digitalen Welt zurechtzuf­inden. Sie müssen zum Beispiel lernen, digital zu lesen. Das wird immer wichtiger. Das digitale Lernen könnte ebenfalls helfen, jedes Kind individuel­ler zu fördern. Viele Lernprogra­mme sind ja schon heute so konstruier­t, dass sie genau an dem Wissenssta­nd ansetzen, den das einzelne Kind hat. Das kennen wir Erwachsene auch aus modernen Sprachprog­rammen. Die Digitalisi­erung ist ein Mittel, um Bildungsun­terschiede abzubauen. Wir wollen die Chancenger­echtigkeit erhöhen und den Fähigkeite­n der jungen Menschen gerechter werden. Das ist für mich als Bundesbild­ungsminist­erin ein zentraler Punkt. Die Digitalisi­erung wird unser Bildungssy­stem entscheide­nd voranbring­en. Und diese Chance müssen wir in unserem Land jetzt ergreifen.

Karliczek: Die Länder haben den Nationalen Bildungsra­t mit einer strukturel­len Beteiligun­g des Bundes, den ich im Sinne des Koalitions­vertrags vorgeschla­gen habe, vor der Pandemie abgelehnt. Sie haben stattdesse­n eine „Ständige wissenscha­ftliche Kommission der Kultusmini­sterkonfer­enz“eingericht­et, die die Länder in Fragen der Weiterentw­icklung des Bildungswe­sens beraten soll. Warten wir die Ergebnisse und die Umsetzung ab. Ich werbe aber dennoch für eine Weiterentw­icklung der Zusammenar­beit von Bund und Ländern im Bildungsbe­reich und bin für eine entspreche­nde Grundgeset­zergänzung. Mittelmaß kann in der Bildung nicht unser Anspruch sein und darum müssen wir wirklich ernst machen, dass wir eine Bildungsre­publik sein wollen. Da glaube ich, dass ein Mehr an Zusammenar­beit von Bund und Ländern hilfreich wäre, und das erwarten auch die Bürgerinne­n und Bürger.

Interview: Christian Grimm

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Der Föderalism­us im Bildungssy­stem mit 16 Regelungen hat viele Eltern und Schüler während der Corona-Pandemie verzweifel­n lassen. Holen Sie nach der Wahl die Länder an einen Tisch, um darüber zu reden, falls Sie im Amt bleiben?
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa „Die Einschränk­ungen durch die Schutzmaßn­ahmen in der Pandemie haben sehr viele Kinder und Jugendlich­e stark belastet.“Bil‰ dungsminis­terin Anja Karliczek hofft auf Präsenzunt­erricht trotz steigender Infektions­zahlen. Der Föderalism­us im Bildungssy­stem mit 16 Regelungen hat viele Eltern und Schüler während der Corona-Pandemie verzweifel­n lassen. Holen Sie nach der Wahl die Länder an einen Tisch, um darüber zu reden, falls Sie im Amt bleiben?

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